Ein kulturwissenschaftliches Duett mit Buchlesung
Breite Bevölkerungsgruppen verlieren in Deutschland ihren Bezug zur Religion, so die Wahrnehmung in den öffentlichen Debatten. Die Institution Kirche verliert immer mehr Mitglieder und damit auch Einfluss und Macht. Zeitgleich leben Menschen ihre Religion anders und es gibt viele unterschiedliche Tendenzen von Spiritualität. Dennoch erlaub sich die Frage: was bedeutet der Verlust von Religion für die die Gesellschaft? Wie füllt sich diese Lücke?
Das 2024 veröffentlichte Buch „Graswurzelglaube – Über neue Formen des Religiösen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft“ von Prof. Dr. Wolf-Andreas Liebert, Sprach- und Kulturwissenschaftler an der Universität Koblenz, bietet Beobachtungen und sucht nach Antworten auf diese Fragen.
Das ISSO-Institut lud gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut der Universität Koblenz am 12.02.2025 zu einer Veranstaltung ins Dreikönigenhaus in Koblenz ein.
Prof. Dr. Andreas Ackermann, Prof. Dr. Wolf-Andreas Liebert (Foto: Beatrix Sieben, ISSO)
Zum Buch:
Was geschieht, wenn traditionelle Formen der Religion an Einfluss verlieren? In seinem Buch „Graswurzelglaube“ zeigt Prof. Dr. Wolf-Andreas Liebert, wie neue Formen des Religiösen in unserer vermeintlich säkularisierten Gesellschaft „sprießen“ und warum sie eine entscheidende Rolle für die Zukunft spielen können – ebenso als Chance wie als Gefahr.
Von spirituellen Großveranstaltungen so genannten Retreats, wie denen von Eckhart Tolle über quasireligiöse Sprache in der Politik bis hin zu individuellen spirituellen Aufbrüchen zeigt das Buch, wie Religiöses an unerwarteten Orten auftaucht. Religiöse Strömungen können in einer fragmentierten Gesellschaft den Zusammenhalt fördern – das ist die Chance. Es besteht jedoch auch die Gefahr, dass sich Ideologien ausbilden können, die Gewalt und Extremismus mit einer religiösen oder spirituellen Weltsicht rechtfertigen.
Zur Veranstaltung:
Nach einer kurzen Einführung in das Buch durch den Autor selbst moderierte Prof. Dr. Andreas Ackermann, Ethnologe und Kulturwissenschaftler an der Universität Koblenz, das Interview und das Gespräch mit dem Publikum.
Anmoderation durch Beatrix Sieben (Foto: Martin Görlitz)
Im Interview befragte Ackermann den Autor zu seiner Motivation, über die Welten der Spiritualität zu schreiben, und dazu, wie er sich seine Sachkenntnis darüber erworben hat. Für Liebert ist dies ein spannendes Forschungsfeld, da ihn als Kulturwissenschaftler die Tendenzen unterschiedlicher Spiritualität in der Gesellschaft interessieren. Der Wunsch nach Selbstfindung und Selbsterkenntnis steckt wohl schon immer in uns Menschen drin. Liebert geht zurück bis zum Höhlengleichnis von Platon. Aus Sicht des Kulturwissenschaftlers eine Erwachensgeschichte, die das menschliche Bemühen um Erleuchtung widerspiegelt. Liebert reflektiert seine persönlichen Erfahrungen bei der Teilnahme an einem Retreat zur Selbsterfahrung mit ca. tausend Menschen. Hier wurde der Wissenschaftler selbst vom teilnehmenden Beobachter zum Teilnehmer und fühlte sich zeitweise in besonderem Maße zugehörig zu der Gruppe. Retreats mit dem spirituellen Autor und Mentor Eckhart Tolle zeigen: Es gibt so etwas wie eine universelle Selbsterfahrungssprache, ein spirituelles Esperanto. Miteinander zu reden, ist ein Grundbedürfnis aller Menschen, und sich selbst besser zu kennen oder sich zugehörig zu fühlen, scheint es auch zu sein.
Liebert weist auch auf die Gefahren von Spiritualität hin, auf das Vermischen von politischen und religiösen Themen. In seinem Buch heißt das Kapitel „Gefährliche Liebschaften“. Es gibt strategisch agierende Gruppierungen, dazu gehören auch radikale Rechte, die einem völkischen Traum folgen und Anhängerscharen ansprechen. Wie früher bei Hitler, so lässt sich jetzt auch bei Trump eine Art Heldenverehrung ausmachen. Solch eine politisch motivierte Spiritualität unterscheidet sich von freier Spiritualität, die von Individualität geprägt ist. Sich selbst zugehörig zu fühlen, bedeutet nicht, andere auszugrenzen. Empathie gegenüber anderen Menschen kann zu einer bereichernden Erfahrung führen und erweitert das eigene Bewusstsein, darin sieht Liebert eine große Chance für unsere plurale Gesellschaft. Für Liebert könnte sich daraus eine tiefe Toleranz gegenüber dem anderen entwickeln. Eine Möglichkeit, den eigenen Erfahrungsraum zu überschreiten und sich berühren zu lassen, ohne sich vereinnahmen zu lassen. Nach dem Sprung ins Spirituelle braucht es auch einen Sprung wieder hinaus, daran ließ der Wissenschaftler keinen Zweifel.
Auf eine Frage aus dem Publikum, was seine Beobachtungen für die Kirchen bedeuten und welche Rolle er den tradierten Religionen zuschreibe, antwortete Liebert, dass der Wunsch nach Spiritualität die Richtung weise. Wenn sich die Religionen wieder auf Kontemplation und Möglichkeiten der Selbsterfahrung konzentrieren, statt Kirchenregeln zu predigen, werden sie seiner Meinung nach für viele Suchende wieder attraktiv werden.
Zum Autor:
Prof. Dr. Wolf-Andreas Liebert, geb. 1959, ist Sprach- und Kulturwissenschaftler an der Universität Koblenz. Er ist Co-Leiter der Domäne Religion im Netzwerk Sprache und Wissen der Universität Heidelberg und veröffentlichte zahlreiche Artikel zur Sprache neuer spiritueller Bewegungen sowie zur Sprache des religiösen und politischen Extremismus.
Angaben zum Buch:
Wolf-Andreas Liebert (2024): Graswurzelglaube – Über neue Formen des Religiösen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft. München: Kösel-Verlag. Hardcover, mit Schutzumschlag, 176 Seiten. ISBN-Nr. 978-3-466-37323-9. 20,00 € (als E-Book 12,99 €)
Weitere Informationen: