Über neue Formen des Religiösen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft
„Warum haben Menschen offenbar dauerhaft religiöse und spirituelle Bedürfnisse und Erfahrungen? Welcher Art sind diese in unserer Gegenwart?“ (S. 18)
Mit dem Titel des Buches „Graswurzelglaube“ verweist der Autor auf eine Dynamik des Glaubens, die von unten kommt. Eine Bewegung aus der Gesellschaft. Basisdemokratisch.
Der Autor Prof. Dr. Wolf-Andreas Liebert ist Sprach- und Kulturwissenschaftler. Er forscht und lehrt an der Universität Koblenz. Sein Forschungsinteresse an neuen Formen des Religiösen und deren Bedeutung geht auf seine Sprachforschungen im Bereich des religiösen und politischen Extremismus zurück.
Welche Strömungen lassen sich erkennen, die ganz von unten aus der Bevölkerung kommen, seitdem die großen Religionen und Kirchen ihre Macht eingebüßt haben und seitdem es nur noch wenige Länder mit Staatsreligionen gibt? Menschen scheinen auch weiterhin und vielleicht dauerhaft nach Verbundenheit im Glauben an etwas Transzendentes zu streben, fühlen sich wohl in einer Gemeinschaft und streben nach Zugehörigkeit. Sie suchen nach Sinn und nach Geborgenheit in einer Welt, die scheinbar immer undurchsichtiger wird. Manche suchen dabei auch den Einklang mit der Natur. Doch was veranlasst sie dazu?
„Ob nun jemand an Gott oder andere transzendente Figuren glaubt oder nicht, immer geht es für das menschliche Lebewesen darum, diese existenziellen Erfahrungen von Nichtigkeit einerseits und Absolutheit andererseits einigermaßen gut zu verarbeiten.“ (S. 26)
Der Autor geht der Frage nach, wie es um den Glauben, der jahrhundertelang durch die großen Religionen geprägt wurde und der nun scheinbar rückläufig ist, steht, und überprüft dabei die Entwicklung der Spiritualität und deren Widersprüchlichkeiten. Es geht nicht um Geschichtsschreibung, eher um sprach- und kulturwissenschaftliche Beobachtungen. Worin besteht die Faszination? Was fesselt Menschen und wann lassen sie sich auf Geschichten ein, die sie glauben wollen, ohne sie verstehen zu müssen? Wie vollzieht sich der Schritt aus der Illusion zur Konstruktion der Wirklichkeit? Und weshalb begeistern sie sich für Fragen des Erwachens und der Erleuchtung, die aus östlichen Kulturen stammen und die schon früher Einfluss darauf nahmen, dass sich Gruppierungen den Zwängen bisheriger religiöser Werte entziehen wollten? Wie wurden Musik, Literatur und der persönliche Lebensstil dadurch beeinflusst? Ohne dass es das Wort damals schon gegeben hätte, brachten einige „Influencer“ ab den 1920er-Jahren buddhistische Weisheiten in die westliche Welt. Und beeinflussten damit eine ganze junge Generation, die sogenannte 68er-Bewegung.
Den Propheten von damals folgen heute „Propheten der Selbstermächtigung“, die sich erleuchtet fühlen und sich selbst offenbaren. Sie erzählen und vermarkten ihre Geschichten und fordern andere auf, sich ebenfalls auf den Weg zu machen. Als Ziel gilt dabei die Überwindung des Egos und als Erleuchtung gilt eine Art Gegenwartsbewusstsein. Die eigene Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen ermöglichte es dem Autor, die Anhängerschar etwas genauer betrachten und beschreiben zu können. Sein Forschungsprojekt schien dabei niemanden besonders zu interessieren, was die Zielsetzung- das eigene Ego zu überwinden – ein wenig infrage stellt.
„Wenn Politik und Religion sich treffen, entsteht schnell eine dramatische Zuspitzung auf eine letzte Auseinandersetzung.“ (S. 107)
Der Autor spricht von den „Gefährlichen Liebschaften“, wenn es um Politik und Religion geht. Die Erfahrung mangelnder Glaubwürdigkeit in der Politik machen wir alle von Zeit zu Zeit. Mit Blick auf die Instrumentalisierung der Sprache durch den Nationalsozialismus, wie sie Viktor Klemperer 1947 in seiner LTI (von lateinisch Lingua Tertii Imperii – „Sprache des Dritten Reich(e)s“) verdeutlicht hat, sind die Gefahren heute noch größer. Meinungen, Fake News und Ansichten werden heute über soziale Medien „in Echtzeit“ kommuniziert und lassen sich anschließend zu Handlungen koordinieren. Dem Extremismus ist somit Tür und Tor geöffnet.
„Im rechten Spektrum von Populisten, konservativen Revolutionären, neuen Nationalsozialisten und Identitären wimmelt es nur so von Erwachensmetaphern.“ (S. 131)
Liebert warnt vor naiver Vertrauensseligkeit und verweist auf die Ökologie als mögliche Brücke zwischen Politik, Religion und Wissenschaft:
„Dieses Verbundensein mit der Natur, das Bewusstsein, Teil der Natur zu sein, ist der Kern jeder Naturspiritualität.“ (S. 142)
Unter dem Begriff der „Dunkelgrünen Religion“ versammelt sich eine Vielfalt von weltweiten religiösen Strömungen, diese Bewegungen werden stärker und formieren sich erkennbar. Doch braucht es ergänzende Werte, die eine solche Bewegung sinnvoll zusammenbringen oder zusammenhalten. Das Angebot von Liebert ist hier eindeutig: Empathie und Toleranz benennt er als den Klebstoff, der vielleicht auch die Welt, aber ganz sicher Demokratien zusammenhält, die sich als offene und heterogene Gesellschaften verstehen wollen. Er spricht dabei sogar von einer „tiefen“ Toleranz, die sich von jeglichem Herrschaftsanspruch distanzieren kann.
Fazit: Die Kraft und die Magie von Spiritualität und Religion im Vergleich, aufgezeigt durch unterschiedliche Beobachtungen: Der Autor spannt einen weiten Bogen von der Antike über östliches und abendländisches philosophisches Denken bis hin zur Neuzeit mit allen aktuellen Herausforderungen, um herauszufinden, was unsere Welt „im Innersten zusammenhält“. Lesenswert. Bereichernd. Hoffnungsvoll.
Buchrezension: Beatrix Sieben (2024)
Autor: Prof. Dr. Wolf-Andreas Liebert, geb. 1959, ist Sprach- und Kulturwissenschaftler an der Universität Koblenz. Er ist Co-Leiter der Domäne Religion im Netzwerk Sprache und Wissen der Universität Heidelberg und veröffentlichte zahlreiche Artikel zur Sprache neuer spiritueller Bewegungen sowie zur Sprache des religiösen und politischen Extremismus.
Angaben zum Buch:
Wolf-Andreas Liebert (2024): Graswurzelglaube – Über neue Formen des Religiösen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft. München: Kösel-Verlag. Hardcover, mit Schutzumschlag, 176 Seiten. ISBN-Nr. 978-3-466-37323-9. 20,00 € (als E-Book 12,99 €)