Eine müllphilosophische Deutschlandreise
„Menschheitsgeschichtlich haben wir den Punkt erreicht, an dem unser Müll überall ist und wir uns allmählich mit ihm selbst vergiften. Zugleich geben wir uns sehr viel Mühe, seine beunruhigende Allgegenwart aus unserem Gesichtsfeld zu verbannen.“ (Klappentext vorne)
Wir leben nicht inmitten von Unrat, so wie Menschen im Mittelalter oder auch noch in den beginnenden Jahren der Industrialisierung lebten. Erzählungen von Charles Dickens spuken mir dazu gleich durch den Kopf. Fließendes Wasser in jedem Haus ermöglicht uns heute ein Leben in Sauberkeit. Doch dürfen wir wirklich stolz sein auf unsere sauberen Hände? Oliver Schlaudt, Professor für Philosophie und Politische Ökonomie an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz, nennt es eine „paradoxe Verfassung der Gegenwart: Noch nie waren wir so sauber, noch nie waren wir so dreckig“.
In seinem Buch Zugemüllt lädt uns Schlaudt zu einer müllphilosophischen Deutschlandreise ein: Er berichtet über Abfalllandschaften und Mülldeponien, die er selbst aufgespürt und aufgesucht hat, von seinen Erfahrungen mit und von den begleitenden philosophischen Fragen über Müll – oder besser gesagt: unserem Umgang mit Müll – oder noch besser gesagt: unsere Art, den Müll und das Müllproblem zu verdrängen.
Für alle diejenigen, die sich bis jetzt gefragt haben, was Müll und Philosophie miteinander zu tun haben, sei angemerkt, dass dieses Thema wahrscheinlich eine gewisse Distanz benötigt, damit während der Berichterstattung keine Ekel- oder auch Ohnmachtsgefühle das Projekt zum Scheitern bringen. Diese Distanz können philosophische, aber auch soziologische Fragestellungen sehr gut herstellen.
Als Professor an einer Hochschule für Gesellschaftsgestaltung könnte es Schlaudt auch ein Anliegen sein, aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaften in die Katakomben der Kloaken abzusteigen, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, wie es um unsere Gesellschaft steht, die es so erfolgreich schafft, den Müll aus Haus und Hof zu verbannen. Warum denken wir so wenig über unseren Müll nach?
Ich denke, also bin ich – ich lebe, also verursache ich Müll
In den Zeiten, als der Unrat um die Menschen herum noch ganz normal war und wenig technische Lösungen bereitstanden, um Schmutz und Unrat zu separieren, war auch der Geruchssinn der Menschen noch nicht so verwöhnt wie heute. Allerdings wurde damals auch viel weniger Überflüssiges produziert. Was übrig blieb, waren meist Reste, die weiterverwertet oder zurück in den Kreislauf der Natur eingefügt werden konnten. Heutiger Müll bleibt übrig, bleibt sehr lange übrig. Mancher Müll bleibt deutlich länger übrig als ein Menschenleben. Die meisten von uns wissen das schon eine ganze Weile. Doch es ändert sich nicht viel, trotz unseres Wissens. Wir Menschen sind die einzigen Lebewesen, die in der Welt Müll hinterlassen, also Stoffe, die Ewigkeiten überdauern und nicht mehr einfach in den Naturkreislauf zurückkehren können. Manchmal hinterlassen wir auch Müll für unsere liebsten Haustiere, doch die sind dafür nicht verantwortlich. Die Hinterlassenschaften – in begrifflicher Abgrenzung zum Müll – von wild lebenden Tieren verrotten vollständig und kehren damit in den Kreislauf der Natur zurück.
Unser gemeinsames Verständnis in einer hoch technisierten Welt lautet: Weg mit dem Müll! Wir wollen nichts davon sehen. Wir wollen ihn nicht riechen. Wir wollen Müll nur einfach und bequem loswerden.
Der Autor fragt sich, ob wir die Geister, die wir riefen, überhaupt noch loswerden können? Sein Reisebericht macht nachdenklich und erheitert nicht gerade. Die aktuelle Situation so zu schildern, wie sie ist, bedeutet, sich einzugestehen: Es gibt keinen Ort, der frei von Müll ist. Nirgends auf der Welt. Auch dort nicht, wo keine Menschen leben.
Etappen einer Müllreise
Auf seiner Reise trifft Schlaudt auf Folgen unserer Müllbeseitigungsversuche, die aktuell wohl „für die Ewigkeit“ gedacht sind. Aber Wörter wie „Ewigkeitslasten“ klingen unverdaulich, sie aktivieren ein Gefühl von Ohnmacht. Da lässt sich verstehen, weshalb viele das Thema lieber vermeiden wollen. Die Frage nach dem Müll und seiner Entsorgung löst kognitive Dissonanzen aus, unsere Psyche sucht nach Abstand oder Ausgleich, um mit dieser Belastung umzugehen.
So berichtet der Autor berichtet von einem gigantischen Abwasserkanal bei Essen, von der weltweit größten Untertagedeponie für gefährliche Abfälle im hessischen Heringen und von einer Tierkadaververwertungsanlage im schönen Moseltal.
Das mit Löchern durchzogene Ruhrgebiet ist für viele Menschen nicht als die Polderlandschaft zu erkennen, die nach der Stilllegung des Steinkohleabbaus unter das Niveau des Rheins abgefallen ist. Hunderte von Pumpwerken geben dem Landstrich die erforderliche Stabilität, indem mit hohem Energieaufwand Grundwasser abgepumpt wird. Ohne Technik würde das Ruhrgebiet regelrecht absaufen.
Welche Stadt gilt als die schmutzigste Stadt Europas, über die bereits vor vierzig Jahren ein Roman geschrieben wurde? Deren Geschichte sich oberflächlich betrachtet bis heute verbessert hat, nicht aber, wenn man sich dem Landstrich insgesamt widmet? Schlaudt berichtet über „Paradoxe Effekte“, bei denen ein hoher Grad von Verschmutzung zu einem neuen Gleichgewicht in der Natur führt. Und doch: Wildschweinfleisch aus der Stadt mit B wird als Sondermüll entsorgt. Man spricht von einer unlösbaren Altlast im Untergrund, der Bitterfelder Blase, hochgradig verschmutztem Grundwasser. Keine Ingenieurskunst konnte das Problem bisher lösen. Der Roman Flugasche von Monika Maron erschien 1981 in der BRD im Fischer Verlag – er wurde in der DDR nie veröffentlicht.
Kein Endlager in Sicht
Die Lagerung von Atommüll ist eines der allergrößten Probleme in dieser Welt. Weltweit sind heute mehr als 400 Atomkraftwerke in Betrieb. Für die dort entstehenden radioaktiven Abfälle gibt es derzeit nur Zwischenlager. Es ist aktuell nirgendwo ein Endlager in Betrieb. In Finnland wird seit 2015 ein Endlager gebaut, ebenso haben die Schweiz und Frankreich Pläne, einen Standort für ein zukünftiges Endlager festzulegen.
„Natürlich war vom Beginn der Kernkraftnutzung an klar, dass sich das Müllproblem stellt“, fasst Schlaudt, aus einer 1959 in Monaco stattgefundenen Konferenz der IAEA und UNESCO, zusammen. Doch bei den zu erwartenden Zeitdimensionen kommt die Kapazität unseres Denkens möglicherweise an ihre Grenzen, selbst dann – oder gerade dann –, wenn sie von einer gewissen Fortschrittsgläubigkeit der 60er-Jahre umnebelt wurde. Es geht hier schließlich um eine Lagerung, die vorstellbare Zeiträume unserer gegenwärtigen Geschichte bei Weitem übersteigt: 100.000 bis 1.000.000 Jahre. Wenn dieses Projekt auf Dauer scheitert, dann öffnet sich eine Büchse der Pandora, niemand kann dieses Unheil exakt vorausdenken.
Technik, die an ihre Grenzen kommt
Schlaudt beschreibt, was er vorfindet, stellt sich selbst und anderen Fragen, denkt laut, macht sich weiterführende Gedanken und scheut sich nicht davor, die damalige und heute noch immer anhaltende Fortschrittsgläubigkeit infrage zu stellen. Auch wenn wir nicht zur Natur oder in vorindustrielle Zeiten zurückkönnen: Es wird Zeit, zu erkennen, dass es nicht für alle Probleme technische Lösungen gibt – und möglicherweise auch niemals geben wird. Das zu erkennen und einzugestehen, wirft andere, neue Fragen und Schlussfolgerungen auf.
Das Buch endet mit kleinen Hinweisen, wie sich Müll vermeiden lässt und wie wir uns im kleinen Kreis von Familie und Nachbarschaft etwas behelfen können. Und schließlich mit einer „Ode an den Humus“, dem 1979 verlesenen Manifest von Friedensreich Hundertwasser: Scheißkultur – die heilige Scheiße. Darin und dadurch propagiert der Künstler die Nützlichkeit von Humustoiletten.
Schlaudts müllphilosophische Deutschlandreise endet für die Lesenden mit einem fahlen Nachgeschmack und hinterlässt sie mit sehr gemischten Gefühlen von Wut und Trauer, aber auch Melancholie, Angst und Sorge. Die fröhliche Heiterkeit kommt zu kurz. Es geht hier um eine ernste Angelegenheit. Das Müllproblem, welches wir verdrängen wollen, lässt sich nicht verdrängen, es pocht an die Türe, ob wir wollen oder nicht. Darüber lässt der Autor keinen Zweifel, er packt die Lesenden bei den sogenannten Hammelbeinen und konfrontiert sie mit ihrer Mitverantwortlichkeit. Das kann man ihm nicht übelnehmen. Immerhin hat er, ganz auf sich selbst gestellt, diese Reise gemacht durch all die Bitterkeit und die üblen Gerüche. Lösen kann auch er das Müllproblem nicht. Und so stehen wir Lesenden da und zitieren Bertold Brecht aus seinem Theaterstück Der gute Mensch von Sezuan:
„Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
(Aus der Buchfassung von 1953)
Buchrezension: Beatrix Sieben (2024)
Zugemüllt. Eine müllphilosophische Deutschlandreise ist am 15. Februar 2024 erschienen bei C.H.Beck als Paperbackausgabe (ISBN-Nr. 978-3-406-81464-8, 364 Seiten mit 6 Abbildungen, 22,00 €) sowie als E-Book für 16,99 €.
Oliver Schlaudt, geboren 1978, ist Professor für Philosophie und Politische Ökonomie an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich mit Fragen der Technik-, Kultur- und Wissenschaftsphilosophie mit einem besonderen Interesse an Ökonomie und kognitiver Archäologie. Zuletzt sind von ihm erschienen: Das Technozän. Eine Einführung in die evolutionäre Technikphilosophie (2022) und Die politischen Zahlen. Über Quantifizierung im Neoliberalismus (2018).
Bibliografische Angaben zu dem im Text erwähnten Buch von Monika Maron: Flugasche. Roman. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-596-22317-2
Weitere Informationen:
Hochschule für Gesellschaftsgestaltung