Autorin Mirrianne Mahn (Foto: Isa Hoffmann)
Am 10. Juni 2025 luden das ISSO-Institut und die Hochschule für Gesellschaftsgestaltung (HfGG) zur Lesung mit Mirrianne Mahn ins Dreikönigenhaus Koblenz ein. Im Rahmen der Reihe „Mit Empathie gegen Rassismus“ stellte die Schriftstellerin, Aktivistin, Theatermacherin und Politikerin ihren Debütroman ISSA vor. Für das ISSO-Institut begrüßte Beatrix Sieben, moderiert wurde der Abend von Leonie Tasse von der HfGG.
Die Geschichte hinter ISSA – Literatur als Brücke zwischen Epochen
In ihrer Lesung erzählte Mahn eindrucksvoll, wie ISSA entstand: aus jahrelanger Archivarbeit und der Auseinandersetzung mit kolonialen Machtstrukturen, in denen Frauen oft namenlos blieben. Mahn entschied sich, diesen Frauen eine Stimme zu geben – in einer Romanform, die einlädt. Im Buch werden fünf Frauen durch über hundert Jahre Geschichte begleitet– von Kamerun bis Deutschland – und Identitätsfragen, Kolonialgeschichte, Mutterschaft, Trauma, aber auch Wärme und Humor erlebbar gemacht.
Issa‘s Rückkehr nach Kamerun– zwischen Überforderung und Selbstbehauptung
Ein besonders eindrücklicher Moment der Lesung war das Kapitel, in dem Issa nach Jahren erstmals wieder in Kamerun ankommt – schwanger, verunsichert, zwischen Vorfreude, Überforderung und Selbstzweifel. Mahn beschreibt diese Situation mit feinem Gespür für alltägliche Beobachtungen: den Umgang mit Verwandten, die eigenen Unsicherheiten beim Ankommen, das Essen auf der Straße, welches Erinnerungen in ihr hervorruft und neuen Stress zugleich weckt.
Mit leiser Komik und scharfer Beobachtung schildert Mahn, wie ihre Protagonistin zwischen Erwartungen, kulturellen Unterschieden und eigener Identitätsarbeit navigiert – eine typische Szene für Mahns Stil: zugänglich, ehrlich, zugleich leicht und tief.
Eine Frage, die mehr ist als Small Talk: „Wo kommst du her?“
Moderatorin Leonie Tasse und Autorin Mirrianne Mahn (Foto: Isa Hoffmann)
Mahn thematisierte die für viele BIPoC* (Black Indigenous and other People of Color) belastende Alltagsfrage „Wo kommst du her?“ – eine vermeintlich harmlose Nachfrage, die jedoch oft das Gefühl vermittelt, nicht dazuzugehören. Mahn berichtete beispielsweise davon, dass sie in Deutschland nicht als Deutsche akzeptiert und wahrgenommen werde, wohingegen sie auf ihren Reisen überall sehr wohl als eher typisch deutsch gelte.
Sie betont, dass diese Frage oft nicht aufrichtiges Interesse bekunde, sondern eine Ausgrenzung darstellt, und somit Macht und auch eine Deutungshohheit markiert – eine subtile Form von Rassismus.
In ISSA wird diese Frage zur Metapher für das Spannungsfeld zwischen Kulturen und für die Suche nach Zugehörigkeit.
Kolonialismus – Geschichte, die nachwirkt
Ein zentrales Thema des Abends war die fehlende Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Deutschland. Mahn sprach über ihre intensive Arbeit in Archiven: Berichte von Schutztruppensoldaten, Plantagenbesitzern, kirchlichen Institutionen. Immer wieder tauchten darin Frauen auf, mit Schicksalen, die berühren und bis in die Gegenwart nachwirken. Diese Schicksale waren für Mahn Anlass, ihre Romanfiguren mit Leben zu füllen – als eine Form der Würdigung und Erinnerung an die Frauen.
Kritisch thematisierte sie den Umgang mit Kolonialismus im Bildungssystem: Obwohl viele Schulbücher regelmäßig überarbeitet werden, etwa zu Ereignissen wie dem 11. September, werde der Kolonialismus weiterhin ausgeklammert.
Dabei ist die deutsche Kolonialgeschichte keineswegs ein abgeschlossenes Kapitel: Sie reicht von der brutalen Herrschaft in „Deutsch-Südwestafrika“ (heute Namibia) bis zur engen Verflechtung mit rassistischen Wissenschaften und Raubkunst. Bis heute fehlen systematische Entschädigungen, vollständige Rückgaben oder eine flächendeckende Aufklärung an Schulen. Mahns Roman ist somit auch ein Appell an kollektives Erinnern.
ISSA versteht sich damit auch als Gegenerzählung – ein Versuch, koloniale Spuren sichtbar zu machen und deren Wirkung bis in die Gegenwart literarisch zu erfassen.
Intersektionaler Feminismus
Foto: Isa Hoffmann
Mahn beschreibt, wie sich Lebensrealitäten und Diskriminierungserfahrungen je nach Herkunft, Hautfarbe, Klassenzugehörigkeit, sexueller Orientierung, Religion und weiteren gesellschaftlichen Faktoren überschneiden. Diese Perspektive fehlt noch immer in vielen feministischen Diskursen. In ihrem Roman wie in der anschließenden Diskussion erklärte Mahn, wie feministische Perspektiven erweitert werden müssen, wenn sie die Realität Schwarzer* Frauen und weiterer marginalisierter Gruppen ernst nehmen wollen. Dabei sei es zentral zu verstehen, dass nicht alle Frauen im gleichen Maß von Diskriminierung betroffen sind – und dass sich die Kämpfe Schwarzer Frauen von denen weißer* Frauen unterscheiden.
Mahn verweist auf das Konzept der Intersektionalität, das auf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw zurückgeht: Es besagt, dass Diskriminierungen in spezifischen Kombinationen neue Formen von Ausschlüssen erzeugen. Feministische Sichtweisen sind nur dann vollständig, wenn sie auch rassistische, soziale, kulturelle und weitere Ungleichheiten berücksichtigen.
In ISSA wird diese Vielschichtigkeit nicht theoretisch, sondern literarisch greifbar. Die Figuren kämpfen mit der Frage, was es heißt, als Schwarze Frau in weißen Strukturen ernst genommen zu werden – oder in einer patriarchal geprägten Familie für Selbstbestimmung einzustehen, ohne den Kontakt zur eigenen Herkunft zu verlieren. Der intersektionale Blick wird lebendig, ohne belehrend zu wirken. Mahn gelingt es, Leser*innen einzuladen, ihre eigene Position zu hinterfragen – ohne Schuldzuweisung, aber mit Klarheit.
Der „alte weiße Mann“ – Symbol für eine patriarchale und gesellschaftliche Haltung
Ein weiterer Diskussionspunkt des Abends war der oft provokant klingende Begriff des „alten weißen Mannes“. Mahn griff dieses Bild bewusst auf, um auf ein strukturelles Machtverhältnis des Patriachats hinzuweisen, das tief in unserer Gesellschaft wirkt.
Mit „alten weißen Männern“ sind nicht wörtlich alte, weiße Männer gemeint, sondern eine gesellschaftliche Haltung, die für Patriarchat, Rassismus, Antifeminismus, Machtmissbrauch, Privilegien, gesellschaftlichen Stillstand und vieles mehr steht. Der Begriff kritisiert eine Einstellung, die sich gegen soziale Veränderungen stellt – sei es im Hinblick auf Gleichstellung, Diversität, Klimaschutz – und auf bestehende Machtstrukturen, Privilegien und Hierarchien beharrt.
Mahn rief dazu auf, solche Begriffe als Einladung zur Selbstreflexion zu verstehen: Wer profitiert von den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen – und wie lassen sich diese verändern?
Warum es keinen Rassismus gegen weiße Menschen gibt
Im Publikumsgespräch wurde nach einer Frage das Thema „Rassismus gegen Weiße“ aufgegriffen. Mahn erklärte klar, dass Rassismus immer ein strukturelles Machtverhältnis beschreibt – nicht bloß persönliche Ablehnung, Beleidigung oder Diskriminierung. Es gibt keine gesellschaftlichen wirksamen Strukturen, die Weiße aufgrund ihrer Hautfarbe systematisch ausschließen oder benachteiligen. Diese Unterscheidung sei zentral, um gesellschaftliche Machtverhältnisse richtig zu benennen. Wer beides vermische, verkenne die historische Realität und verwässere die notwendige Debatte um rassistische Strukturen.
Fazit: Literatur, als Grundlage für gesellschaftlichen Dialog
Dieser besondere Abend war mehr als eine Lesung – er war ein Gesprächsangebot.
Mirrianne Mahn gelang es eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Komplexität und auch die Schwere der Themen Kolonialismus, struktureller Rassismus und intersektionaler Feminismus durch bewegende Erklärungen verständlich und nachvollziehbar wurden. Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung und Reflexion mit diesen Themen kam klar zum Ausdruck.
Die vorgelesenen Passagen aus ISSA und die Einblicke in das Leben der darin beschriebenen Frauen waren sehr berührend und haben zum Nachdenken angeregt.
*Anmerkung: Mit den Beschreibungen Schwarz und weiß sind keine Farbbezeichnungen gemeint. Schwarz ist, genau wie BIPoC, eine Selbstbezeichnung und bezieht sich auf die gemachten Rassismuserfahrungen von Menschen. Weiß wurde in diesem Beitrag bewusst kursiv geschrieben, da es sich um eine politische Beschreibung handelt. [aus „Exit Racism“ von Tupoka Ogette]
Eine Veranstaltung im Rahmen der Seminarreihe „Mit Empathie gegen Rassismus“ – zur Seminarreihe.
Foto: Isa Hoffmann
Fotos: Foto: Isa Hoffmann https://www.belleisart.com/