Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft
„Im Bild der Polarisierung ist die Gesellschaft in zwei Lager gespalten, die mit widerstreitenden Meinungen, Interessen und Werten aufeinanderprallen.“ (S. 7)
In ihrem 2023 erschienen Buch „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ gehen die drei Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser der Frage nach, ob das seit einigen Jahren aufgerufene Bild einer gespaltenen Gesellschaft wirklich stimmt. Mit einem Blick auf die Dynamiken in den sozialen Medien, wo sich Meinungen inflationär schnell verbreiten, aber auch in politischen Debatten, die nicht selten in Talkshows ausgetragen werden, lassen sich gewisse Spaltungsdiagnosen identifizieren.
In soziologisch bewährter Manier wird anhand vielfältig erhobener Daten aufgeschlüsselt, welche Konfliktthemen und Konfliktgruppen die gesellschaftlichen und auch die politischen Debatten bestimmen. Dabei lässt sich erkennen, dass einige Themen die Gemüter rascher erhitzen als andere und somit zu stärkeren Kontroversen im gesellschaftlichen Diskurs führen.
Mit einem Blick auf mögliche Gewinner und Verlieren eines Transformationsprozesses in unserer Gesellschaft ergeben sich Interessengegensätze, Gruppenbewusstsein und Ungleichheiten. In Abgrenzung zur traditionellen Klassengesellschaft zeigen sich widerstreitende Grundhaltungen, mit denen Großgruppen mit auseinanderklaffenden Interessen und Werten entstehen, die durch neue politische Parteien vertreten werden.
„Die ehemalige Mitte erodiert, es bildet sich mehr und mehr eine Polarität zwischen einer Klasse mit hohem kulturellen (sowie mittlerem bis hohem ökonomischen) Kapital sowie einer Klasse mit niedrigem kulturellen und ökonomischen Kapital heraus.“ (S. 16)
Das Soziologen-Trio vergleicht die gesellschaftlichen Strömungen in Deutschland mit denen in den USA und findet hier keine übereinstimmenden Zuspitzungen in Richtung eines Zwei-Welten-Modells, bei dem politische Parteineigungen zu „Mega-Identitäten“ avancieren und „aus politischen Wettbewerbern Gegner und Feinde“ (S. 17) werden lassen.
„Einzelne Meinungen sind viel loser verknüpft als in der Zwei-Welten-Theorie angenommen. Einen übergreifend progressiven ,kosmopolitischen Geistʻ findet man in der Breite der Gesellschaft ebenso selten wie ein umfassendes ,kommunitaristisches Wirʻ (nationalistisch orientiert) auf dem Weg ins Gestern. Die Banner des reinen Kosmopolitismus oder Kommunitarismus tragen nur kleine Gruppen.“ (S. 19)
Statt einer Zwei-Lager-These konzentriert sich das Buch auf Konfliktarenen, bei denen Ungleichheitsfragen im Vordergrund stehen. Dabei geht es darum, herauszufinden, „wer streitet mit wem worüber und warum“ (S. 20).
Das Buch betrachtet diese Ungleichheitskonflikte und bietet mit dem Konzept von „Triggerpunkten“ ein analytisches Werkzeug an, welches bei der Orientierung helfen soll, weshalb manche Themen emotionalisierbarer sind als andere und warum in der Folge Konsens in Dissens umschlagen kann.
Zur Differenzierung werden verschiedene Themenfelder nebeneinandergestellt, die im Weiteren genauer betrachtet werden. Das verhindert, eine Lagerbetrachtung oder einen übergreifenden Großkonflikt zu unterstellen. Es werden hierfür sehr unterschiedliche Datenarten und methodische Herangehensweisen verwendet. Das infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft befragte hierfür im Jahr 2022 in einer repräsentativen Umfrage 2.530 Personen ab 16 Jahren.
Arenen der Ungleichheitskonflikte
Die Autoren bieten vier Arenen (Oben-Unten, Innen-Außen, Wir-Sie, Heute-Morgen) der Ungleichheitskonflikte an. Das sind gleichsam die „Orte“, an denen Auseinandersetzungen, Kämpfe und Debatten ausgetragen werden. Es geht dabei neben materiellen Fragen auch um Fragen der Zugehörigkeit und der Anerkennung. Im Zentrum stehen Konflikte der Gegenwart und der sozialen Ungleichheit. Die Orientierung erfolgt an Fragen nach Ressourcen, Ansprüchen und Verteilungen: „Die Arenen stehen so für vier besonders virulente Konfliktkomplexe der sozialen Ungleichheit.“ (S. 48)
„Es gibt nicht den einen alles bestimmenden Konflikt, sondern eine Reihe von Themen, die mehr oder minder scharf debattiert werden, wann immer sie in den Fokus geraten.“ (S. 37)
((Hier Integration Abb.2.1 Ungleichheitsarenen – eine Typologie (S. 49)))
„Ungleichheit wird als äußerst dringliches Problem, als „sozialer Sprengstoff“ (Ludwig) beschrieben und mit einem Strauß sozialer Pathologien – von Kinderarmut und Kriminalität bis zum Rechtspopulismus – in Beziehung gesetzt.“ (S. 81)
Neben den differenzierten Betrachtungen der vier Ungleichheitsarenen werden Strukturgeber inspiziert: Herkunft, Bildung, Alter und Geschlecht spielen hier ebenso eine Rolle wie Fragen der Identitätspolitik oder der kulturellen Prägung und werden mitbetrachtet.
Gefühlsbarometer: Sympathie und Antipathie
Weshalb lassen sich einige Themen kaum sachlich diskutieren? Was macht sie zu Triggerpunkten, die sich schnell und leicht emotional aufladen und zu Empörungsstürmen heranwachsen. Mithilfe von stereotypen Sozialfiguren wurde in allen Arenen die affektive Aufladung überprüft. Hierbei zeigt sich, dass das Gefühlsbarometer hochschnellt bei Themen, „die durch dynamischen Wandel und das Fehlen etablierter Befriedungsformeln gekennzeichnet sind. In Phasen der Veränderung scheint das Neue besonders zu provozieren.“ (S. 329).
Das Herausstellen von Themen dient auch der Unterscheidung von Parteien, die folglich ein eigenes Interesse daran haben, sich Themen herauszusuchen, die einen erwartbaren Zuspruch bei ihrer Wählerschaft haben.
„Die Priorisierung bestimmter – umstrittener – Themen hilft dabei, Aufmerksamkeit zu erlangen; andere, über ein weites Parteienspektrum hinweg konsensuelle Themen werden zwar mitgeführt, aber tendenziell abgedimmt, weil sie wenig Mobilisierungspotenzial besitzen: Aus Nutzenkalkül sind Parteien also besonders laut bei umstrittenen und leise bei konsensuellen Themen.“ (S. 394)
Die Autoren Mau, Lux und Westheuser können, wie sie es selbst formulieren, „keine Rezepte für das politische Tagesgeschäft ausstellen“ (S. 407). Sie laden stattdessen ein zu allgemeineren Überlegungen, in welche generellen Stoßrichtungen Konfliktbefriedung stattfinden könnte und welche politischen und gesellschaftlichen Mittel es gibt, um mit Ungleichheitskonflikten umzugehen.
„Ganz allgemein werden Konflikte dadurch befriedet, dass man für alle Beteiligten akzeptable Kompromisse erzielt….“ (S. 408)
Alle denkbaren Akteur*innen – inklusive der Medien – können in diesem Zusammenhang aktive Rollen einnehmen und das Pflichtprogramm oder das Feld nicht nur der Politik überlassen. Dabei geht es auch um moralische Vorstellungen, die ausgefochten werden wollen.
Fazit
Die Autoren halten unsere deutsche Gesellschaft nicht für gespalten. Es gibt keine zwei Lager. Es gibt vielmehr viele unterschiedliche Meinungen, die nicht immer so stark korrelieren, dass sich daraus eine Polarisierung erkennen lässt. Das Konzept der „Triggerpunkte“ zeigt auf, dass wir alle in unterschiedlicher Weise auf verschiedene Themen ansprechen, mal mehr, mal weniger emotional. Dem Soziologen-Trio gelingt es, ein tieferes Verständnis gesellschaftlicher Zerrissenheit und Unsicherheiten im Kontext von Wandel und Veränderungen aufzuzeigen, deren Dynamiken sich in Ungleichheitsarenen entfalten müssen. Wer eigentlich in welchen Arenen mit wem worüber streitet, erläutern die Autoren anhand ihrer Forschungsergebnisse präzise und verständlich und bieten überraschende Einsichten zu möglichen Kipppunkten. Auch wenn das vorliegende Buch kein Rezeptbuch für den Umgang damit darstellt, so ergibt sich durch die fundierte Analyse ein besseres Verständnis für vorhandene Ungleichheitskonflikte in der Gegenwartsgesellschaft.
„Eine Analyse von Konflikten, an denen sich die Gemüter in Deutschland erhitzen. Sie ist ein großer Wurf.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung (Buchcover)
Zum Buch:
Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp Verlag 2023. 540 Seiten. Broschiert. ISBN 978-3-518-02984-8. 25,00 €
Zu den Autoren:
Steffen Mau, geboren 1968 in Rostock, ist ein deutscher Soziologe und Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Mau gehört seit 2021 zum Sachverständigenrat für Integration und Migration. 2021 erhielt er den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 2023 den Communicator-Preis des Stifterverbandes.
Thomas Lux, geboren 1979 in Weidhausen bei Coburg, lehrt am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschung zur politischen Soziologie der Ungleichheit wurde unter anderem mit dem Preis der Fritz Thyssen Stiftung ausgezeichnet.
Linus Westheuser, geboren 1989 in Berlin, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht zu politischen Konfliktstrukturen, Klassen und Moral.
Foto: Buch Abb.2.1, Ungleichheitsarenen: Eine Typologie