Die Diskussion über das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland bleibt ein aktuelles Thema, das gerade nach den diesjährigen Bundestagswahlen wieder neu entflammt ist. Für den Soziologen Steffen Mau „dreht sich die Debatte im Kreis“. Der in Rostock geborene und jetzt an der Humboldt-Universität zu Berlin tätige Professor für Makrosoziologie widerspricht einigen gängigen Thesen und Vorurteilen, die sich im Laufe der letzten Jahre bei der Betrachtung des Ostens etablieren konnten. Mau „sieht in den Sozialstrukturen bis heute erhebliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland“ (S. 22), allem voran bezieht sich dies „auf die Statusordnung insgesamt: Im Vergleich beider Teilgesellschaften ist Westdeutschland mittelschichtiger, Ostdeutschland hingegen eine einfache Arbeitnehmergesellschaft“ (S. 22). Diese Situation und der Hinweis darauf, dass „nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftssteuer in Ostdeutschland (ohne Berlin) gezahlt werden“ (S. 23), veranlasst Mau, vom „Land der kleinen Leute“ zu sprechen.
Anders ist kein Grund für gegen
Auch demografische Aspekte spielen eine Rolle: Der Anteil der über 65-Jährigen ist in den östlichen Bundesländern deutlich größer, auch wenn Ostdeutschland zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung 1990 die jüngere Gesellschaft darstellte. Betrachtet man zusätzlich die Unterschiede zwischen Städten und Land, dann fällt auf, dass es zu einer „demographischen Maskulinisierung“ (S. 30) kommt, da in etlichen Landkreisen ein deutlicher Überhang an jungen Männern lebt. Der Zuspruch zur AfD kommt daher für Mau nicht überraschend, sondern auch als eine Konsequenz darauf, dass sich diese Partei gerne als „Männerpartei darstellt (mit weniger als 20 Prozent weiblichen Mitgliedern)“ (S. 30) und somit zum Magneten für verunsicherte und reaktionäre Männlichkeit wird.
Mau sieht neben „Sozialstruktur“ und „Demografie“ einen „soziokulturellen Eigensinn“, welcher sich aus der subjektiv erlebten und immer wieder wahrgenommenen und erzählten eigenen Verlustgeschichte pflegt, als zusätzliches Kriterium. Die sich daraus ergebenden Deutungsmuster führen zu einem eher unangepassten und in gewisser Weise trotzigen Ablehnen all dessen, was von außen kommt oder vonseiten des Staates aufgebürdet wird. Es wirkt wie eine pubertäre Verweigerungshaltung, die sich dem Mainstream und der westlichen Kultur und schlussendlich auch der Demokratie verweigert. Mau erklärt die Gründe für diese Deutungshoheiten und weist darauf hin, wie sich diese immer neu durch aktuelle Geschehnisse aktivieren und verstärken lassen. Immer wieder aufkommende Ost-West-Spannungen erhalten somit „eine Fortschreibung der Unterschiedlichkeiten“ (S. 38) und erfahren trotz durchgemachter gemeinsamer Erlebnisse keine Angleichung.
Demokratie braucht gelingende Erfahrungen
Das gängelnde und kontrollierende Regime der DDR bildete keine optimale Ausgangssituation für demokratisches Miteinander. Die Menschen waren nicht ausreichend geübt in Sachen Mitwirkung und Beteiligung. Man ist stolz auf die friedliche Revolution, die sich durch Demonstrationen auf der Straße vollziehen konnte. Gegenüber der Obrigkeit bleibt bis heute eine nachvollziehbare Portion Skepsis, das betrifft auch die bürgerlichen Parteien. Bis heute sind die Mitgliederzahlen in den etablierten Parteien der Mitte deutlich geringer als in Westdeutschland und die Wahlergebnisse und somit die Zuläufe zu den rechten oder linken Randparteien seit der Bundestagswahl offenkundig.
„Was einst als erstrebenswert galt, kann in ein notorisches Insuffizienzgefühl und Verbitterung umschlagen, wenn man sich fortwährend mit Umstellungsanforderungen konfrontiert sieht.“ (S. 46)
Gerade eine solche Gefühlslage ist anfällig für Aufwertung und Anerkennung, dabei wird dann aber übersehen, dass diejenigen, die hier einspringen, um eine solche Identitätslücke zu füllen, selbst tief im Westen verwurzelt sind und als Akademiker und Europagegner die AfD gegründet haben. Es erklärt aber auch, weshalb die Wahlbeteiligung gerade auf der kommunalen Ebene besonders hoch ist. Man beteiligt sich eher dort, wo das eigene Lebensumfeld angesprochen wird.
Von laut bis leise: Es geht um Selbstwirksamkeit
Mau zieht aus diesen Betrachtungen heraus seine soziologischen Schlüsse. Mit Blick auf die historischen, kulturellen und sozialökonomischen Erfahrungen vieler Bürger:innen des alten DDR-Regimes plädiert er – angesichts ihrer schwachen Verwurzelung in westlichen Werten und demokratischen Parteien – dafür, alternative Formen in der Ausübung von Demokratie zu erproben. Dabei geht es ihm darum, dass sich die Bevölkerung selbstwirksam wahrnehmen kann. Vom Protest auf der Straße hin zu mehr (Mit-)Gestaltung. Gerade in ländlichen Gegenden werden Mitwirkende gebraucht. In vielen Landkreisen gibt es kaum Menschen, die politische Verantwortung übernehmen wollen. Vielleicht auch deswegen, weil dort so wenig junge Leute leben. Und sich dadurch die Frage stellt, wofür man sich denn überhaupt engagieren soll. Der Aufbau einer starken Zivilgesellschaft, die sich jenseits von Parteipolitik engagieren und neu erfahren kann, ist so gesehen womöglich kein schlechter, sondern ein sehr zielführender Ansatz.
Fazit:
Steffen Mau gelingt mit seinem Buch „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ eine sehr differenzierte Betrachtung, jenseits von Belehrung oder Schuldzuweisungen. Der Klappentext enthält dazu ein sehr treffendes Zitat von Cornelius Pollmer von der Süddeutschen Zeitung: „Hier schreibt der richtige Autor in der richtigen Form zur richtigen Zeit über das richtige Thema.“ Das Buch bietet eine empathische Grundlage für ein neues, gegenseitiges Verständnis und ein beherztes Aufeinanderzubewegen. Miteinander die großen Herausforderungen unserer Zeit anzupacken, ist allemal besser, als das Gegeneinander weiter zu verstärken.
Der Autor:
Steffen Mau, geboren 1968 in Rostock, ist ein deutscher Soziologe und Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Mau gehört seit 2021 zum Sachverständigenrat für Integration und Migration. 2021 erhielt Steffen Mau den Gottfried Wilhelm Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 2023 erschien die von ihm gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser verfasste Studie „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“.