Nachhaltigkeit gilt inzwischen als anerkanntes Ziel: die meisten Menschen wünschen sich, dass die Natur und soziale Systeme ihre Funktionen auch in Zukunft aufrechterhalten können, ohne zu kollabieren. Aber was wäre, wenn wir noch einen Schritt weitergehen könnten? Was wäre, wenn Systeme sich nicht nur erhalten, sondern kontinuierlich positiv entwickeln könnten? Ein Konzept, das als Gegenentwurf zu den Abwärtsspiralen fungiert, in denen sich Klima, Biodiversität und gesellschaftlicher Zusammenhalt derzeit befinden. Diese Idee eines regenerativen Ansatzes prägt zunehmend die Nachhaltigkeitsdebatte und schlägt sich in neuen Konzepten wie der regenerativen Landwirtschaft nieder. Hier steht der Aufbau ökologisch wertvoller, widerstandsfähiger Böden im Mittelpunkt. Aber auch andere Ansätze wie regenerative health betonen den Aufbau gesunder Systeme statt sich auf die Reparatur von Schäden zu beschränken.

Diesen zukunftsweisenden Diskurs greift Martin Grassberger in seinem Buch Regenerativ: Aufbruch in ein neues ökologisches Zeitalter auf. Er kritisiert die reduktionistisch-mechanistische Sichtweise auf die Welt, die er als Ursache des nicht nachhaltigen Umgangs mit Mensch und Natur betrachtet. Diese Perspektive, so Grassberger, habe wesentlich zur Polykrise beigetragen, in der die Menschheit sich heute befindet. Der Verfall planetarer und menschlicher Gesundheit sei die fatale Folge. Jenem degenerativen Trend setzt Grassberger Respekt für planetare Grenzen entgegen. Dabei orientiert er sich an den komplexen, resilienten Systemen in der Natur. Er postuliert, dass die Natur durch ihre Prozesse und Prinzipien die Rahmenbedingungen vorgibt, an denen wir uns orientieren sollten. Dies erfordert jedoch ein tieferes Verständnis für Wechselwirkungen innerhalb komplexer Systeme, die Akzeptanz von Unsicherheiten und eine respektvolle, demütige Haltung gegenüber der Biosphäre. Daraus entwickelt er seine persönliche regenerative Perspektive und definiert detailliert, was sich gesellschaftlich verändern müsste.

Leider machen diese konstruktiven Ideen nur einen kleinen Teil des Buches aus. In der vorangestellten Analyse widmet Grassberger sich beispielsweise reichlich ausführlich der Unterscheidung zwischen links- und rechtshemisphärischem Denken und sieht darin eine Erklärung für viele gesellschaftliche Probleme. Seine Forderung, der seiner Meinung nach „ganzheitlich“ denkenden rechten Gehirnhälfte wieder mehr Raum zu geben, erscheint zwar im weiteren Sinne plausibel, bleibt jedoch neurowissenschaftlich wenig fundiert. Das ist schade, da die daraus abgeleitete Forderung nach systemischem Denken als Kernkompetenz ist absolut berechtigt ist. Diese verunglückte Darstellung ist gewissermaßen emblematisch für die größte Schwäche des Buches. So versucht Grassberger zwar einen wissenschaftlich fundierten Überblick und eine positive Zukunftsvision zu bieten, verliert sich aber leider für weite Strecken des Buches in der Art gesellschaftlicher Generalkritik, die in mancher Hinsicht zweifellos nicht ohne Berechtigung sein mag, ohne echte Empirik jedoch einigermaßen wertlos, weil von anderen schon auf höherem wissenschaftlichem Niveau geleistet, bleibt. Der belehrende Tonfall erschwert die Lektüre zusätzlich. Noch deutlich mehr zu bedauern ist allerdings, dass folglich wenig Handlungsfähigkeit an die Lesenden vermittelt wird. Dabei läge gerade die Übersetzung abstrakter regenerativer Konzepte in Ideen zur praktischen Umsetzung das Potenzial eines populärwissenschaftlichen Buchs.

Trotz dieser Schwächen bietet Regenerativ einen persönlich motivierten, niedrigschwelligen Zugang zum Thema. Besonders gelungen ist die Verbindung zwischen den in der ersten Hälfte vorgestellten Methoden des Systemdenkens und deren Anwendung auf verschiedene Lebensbereiche. Grassberger verortet die Ansätze für individuelles regeneratives Handeln treffend im Lokalen und fordert die Lesenden auf, sich aktiv für eine bessere Zukunft einzusetzen. Insofern lässt sich die Idee der Regeneration durchaus auch als Ermutigung verstehen, sich im Heute zu engagieren – auch wenn man selbst vielleicht nicht die Früchte dieser Arbeit wird ernten können.

Martin Grassberger ist österreichischer Biologe und Facharzt für Gerichtsmedizin. Neben Fragen der Human- und Gesundheitsökologie sowie der Evolutionsmedizin beschäftigt er sich mit vielen weiteren Lebensfragen der Menschheit. Sein Landwirtschaftsbuch „Das leise Sterben“ wurde in Österreich Wissenschaftsbuch des Jahres 2020 in der Kategorie Naturwissenschaft/Technik.

Regenerativ ist am 22. April 2024 im Residenz Verlag erschienen (304 Seiten, 28€).

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner