Ist der Zauber von Franz Kafka hundert Jahre nach seinem Tod ungebrochen? Fühlt sich unser eigenes Leben in diesen Zeiten vielleicht manchmal etwas kafkaesk an? Stellen wir uns die Frage, welche Figur Kafka jetzt geschaffen und welche Geschichte er über die heutige Zeit geschrieben hätte? War er ein Vordenker, ein Visionär, ein Starautor?
Wer es schafft, in einem deutschsprachigen Gymnasium in Grund- oder Leistungskurse einzuziehen oder in einer Abiturprüfung besprochen zu werden, der hat sich den Status eines Klassikers verdient: Franz Kafka gehört dazu – neben zum Beispiel Goethe, Schiller, Kleist, Lessing und Brecht. Der österreichisch-tschechische Schriftsteller (1883–1924), der sich einer klaren und prägnanten Sprache kreativ bediente. Der Erschaffer von Gregor Samsa, der als Käfer erwacht und trotz seiner Hilflosigkeit kein Mitleid auszulösen vermag, sondern nur Ekel und Scham. Ein Bild des Fremdseins im Kreise der Familie, welches sich plastischer nicht beschreiben lässt.
Auch als Bühnenstück findet Gregor Samsas Geschichte – Die Verwandlung – bis heute Anerkennung, auch wenn Kafka selbst, der in seiner Originalität vielleicht mit Shakespeare vergleichbar ist, nicht unbedingt die Bretter, die die Welt bedeuten, bespielen wollte. Der scheue, schnell reizüberflutete Autor verstand sich auf Erzählungen, begann Romane, die er nie beendete. Briefe, die von seinen Zweifeln und ambivalenten Gefühlswirrungen zeugen, wurden nur durch die Umsicht seines Freundes Max Brod erhalten – gegen den ausdrücklichen Auftrag Kafkas, alles Schriftliche von ihm zu vernichten. Neben Thomas Mann und Max Frisch gilt Kafka als Begründer der literarischen Moderne. Seine Texte gelten als skurril und auch als besonders tiefgründig.
Pessimistisch, aber kreativ
Stilpluralismus (diese Zeit verbindet viele künstlerische Richtungen wie Impressionismus, Expressionismus, Dadaismus, Dekadenz, Jugendstil) und literarisches Experimentieren weisen diese Schaffensperiode zwischen 1890 und 1920 als von einer gewissen Ziellosigkeit geprägt aus. Die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen führten zu völlig neuen Denkweisen. Die individuellen Wahrnehmungen der Wirklichkeit traten in den Vordergrund und lösten die zuvor realistischen und sachlichen Erzählweisen des Naturalismus ab. Und vielleicht liegt gerade im dritten Stilmittel – der pessimistischen Weltsicht – die Besonderheit für Kafkas Aktualität, die ihn auch im 21. Jahrhundert zu einer Ikone erhebt. Denn es gibt aktuell wieder viele Gründe für eine solche Art der pessimistischen Weltsicht, wie zum Beispiel Klimawandel, Digitalisierung, künstliche Intelligenz und einen Rechtsruck in Europa. Diese Themen können uns heute ähnlich beunruhigen wie Franz Kafka vor über hundert Jahren die doppelt erfahrene Ausgrenzung als deutschsprachiger Jude in Prag: zum einen wegen der Zugehörigkeit zu einer sprachlichen Minderheit, zum anderen aufgrund eines immer offener zutage tretenden Antisemitismus. Deshalb spielte er gegen Ende seines kurzen Lebens ernsthaft mit dem Gedanken, nach Palästina auszuwandern – was schließlich schwere Krankheit und Tod verhinderten.
Kafka und die Bürokratie
Ob in Die Verwandlung, bei der sich die Familie von ihm abwendet, oder in Das Schloss, in dem er abgelehnt wird, weil er die Regeln nicht beherrscht, die erforderlich sind, um zur Gemeinschaft zu gehören, oder in Der Prozess, wo er sich bestmöglich erklärt und unverstanden bleibt: Derartige Erlebnisse und Erfahrungen des jeweiligen Protagonisten lassen sich ins Hier und Jetzt übertragen. Kafka vermittelte schon vor hundert Jahren das Bild eines Außenseiters der Gesellschaft, der sich stets bemüht und trotzdem nie dazugehört. Er schildert eine moderne Welt, die ihn selbst und die Leser*innen das Fürchten lehrt. Das Durchleben von grotesken Situationen, die wie Albträume daherkommen, belasten und scheinen doch unabwendbar.
Wem fallen nicht die Parallelen auf zu unserer eigenen manchmal ebenso grotesk anmutenden bürokratisch überregulierten Massengesellschaft, bei der Prozesse bis zur Absurdität automatisiert sind und anonyme Stimmen über Hotlines Anweisungen erteilen, die – selbst wenn alles befolgt wird – immer wieder von vorne beginnen, statt bei einer Problemlösung behilflich zu sein.
Vielleicht war Kafka ein Seher, doch selbst, wenn er es nicht war, hatte er ein Gespür dafür, dass neben den Menschen die Situationen, die Umstände, die Automatismen, die Gewohnheiten bedeutungsvoller sein können, als wir es uns vorstellen können und als wir es gerne hätten. Es gibt sie also, die kafkaesken Situationen, in die jeder aktiv lebende Mensch unvermittelt und unverhofft kommen kann. Und was dann kommt, ist vielleicht etwas, was einer pessimistischen Weltsicht oder einem Gefühl von Ohnmacht gleichkommt. Es geht dann um die Frage, wie bin ich hier hineingekommen und wie komme ich hier jemals wieder heraus. Die Hilflosigkeit seiner Figuren drückt aus, was wir heute nicht nur fiktiv beschrieben, sondern auch in soziokulturellen Studien realiter bestätigt bekommen: Es gibt wenig Gründe für Optimismus, wir lernen möglicherweise nicht aus Fehlern oder aus der Geschichte. Vielleicht sind wir verdammt dazu, dasselbe und immer wieder dasselbe noch einmal zu durchleben und zu durchleiden.
Weitermachen statt aufgeben
Um persönlich nicht ganz übel abzurutschen, können wir uns an Kafka orientieren. Auch er machte weiter, so lange, bis er den Kampf gegen seine Krankheit verlor. „Aufgeben ist keine Option“, sagte sein Schriftstellerkollege Erich Kästner, der ihm vielleicht in den 20er-Jahren in Berlin begegnete, vielleicht im Romanischen Café. Vielleicht bewunderten sie dort die Schönheit von Mascha Kaléko oder erfreuten sich an ihren heiteren Versen jener Tage. Damals wie heute gibt es genügend Gründe, am Leben zu zweifeln, doch bis zum Ver-Zweifeln lässt sich die Zeit noch produktiv nutzen. Denn es gibt viel zu tun in unserer heutigen Zeit und Welt!
Weitere Informationen zum Jubiläumsjahr von Franz Kafka:
Buchtipp: https://www.buechergilde.de/…