Ist die Demokratie bereits abgeschrieben? Verschiedene Wahlergebnisse in Europa und in anderen Ländern der Welt geben Hinweise darauf, dass demokratische Staaten wackeln und die bestehenden Demokratien nicht selbstverständlich sind. Besinnung auf ihre Errungenschaften tut not.
„Vergangenes wird uns nicht lehren, die Zukunft zu lesen.“ (Hannah Arendt)
Wie können wir dennoch aus gemachten Erfahrungen lernen und kluge Entscheidungen für die Zukunft treffen? Wie kläre ich denn überhaupt meine Position für mich selbst, bevor ich sie anderen mitteile?
Reflexion – laut Duden die „Vertiefung in einen Gedankengang“ – kann auch als eine Art Selbstbeobachtung, anders ausgedrückt ein vergleichendes Nachdenken über sich selbst und bestimmte Aspekte der äußeren Welt verstanden werden. Dieser Sichtweise entsprechend sind zumindest zwei verschiedene Formen der Reflexion zu unterscheiden: Es gibt zum einen die Selbstreflexion, also das Nachdenken über sich selbst bzw. das eigene Verhalten. Andererseits ist es möglich, ein bisher fremdes Thema denkend zu erschließen.
Die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) sah in der Reflexion die Möglichkeit eines Selbstgesprächs, das einen keineswegs in die Einsamkeit führt, sondern eine Art Verbundenheit mit der Welt zum Ausdruck bringt. Auch die Gegebenheit, dass wir unterschiedliche und teilweise ambivalente Gedanken haben, lässt die Selbstreflexion zu einem aufregenden und auch klärenden Vorgang werden. Arendt nannte dies „sich beim Denken selbst Gesellschaft leisten“. Dieses Denken ist neben dem klärenden Ansatz ebenso wichtig, um den eigenen Denkraum zu erweitern, über das Bekannte und die eigenen Erfahrungen hinauszudenken. Im philosophischen Kontext könnte man ein solches Tun Imaginieren nennen, es hilft dabei, kreativ „out of the box“ zu denken. In Köln, meiner Heimatstadt, spricht man auch von siniere, das entspricht eher der Selbstreflexion: Es kultiviert das Nach-Denken über sich selbst oder über erlebte Situationen.
In Zeiten des Wandels und von steigender Komplexität wird die Fähigkeit zu reflektieren zu einer Überlebenskompetenz: Es ist ein notwendiges Training, immer wieder den eigenen Wissensstand zu überprüfen, Tatsachen von Meinungen zu unterscheiden sowie sich gegen Verunsicherungen und Verschwörungen zu wappnen. Die Demokratie braucht einen solchen reflexiven und kritischen Geist. Meinungsfreiheit stellt dabei, laut Arendt, keine Freiheit zur Beliebigkeit dar, sondern zur Auseinandersetzung mit anderen Menschen, um ein abgewogenes Urteilen und Denken zu fördern. Als Professor für Politische Philosophie hat sich Hans-Martin Schönherr-Mann mit den Begriffen von Wahrheit, Macht und Moral im Werk von Arendt auseinandergesetzt und kommt in seinem Buch darüber auf Seite 179 zu dem Schluss: „Politisches Handeln setzt voraus, die eigenen Urteile zu reflektieren und sie mit anderen abzustimmen.“ Demokratie lebt also vom Austausch, von der Debatte und auch von der Einigung, die sich aber aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Positionen ergibt und nicht von oben nach unten durchdekliniert wird.
Nicht nur im Bereich der Politik, auch im Management oder in allen meinungsbildenden Rollen ist neben Empathie die Fähigkeit zur Reflexion eine Schlüsselkompetenz, wenn es um die Selbstführung oder die Führung von anderen geht.
Interessant ist für Führungspersönlichkeiten in diesem Zusammenhang auch ein Gedanke der deutsch-österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1915):
„Solange man selbst redet, erfährt man nichts.“ Es ist vielleicht eine weiter reichende Ergänzung zum Volksmund, der davon spricht, dass Reden Silber und Schweigen Gold ist.
Diese Vergleiche mit wertigen Edelmetallen beziehen sich auch auf die Qualität des Zuhörens, um mehr von anderen zu erfahren. Und doch steckt darin auch der Hinweis, dass Kommunikation und Miteinander eine bewusste Haltung erfordern, die von (Selbst-)Disziplin geprägt ist. Wer zuhört, bekommt einen umfassenderen Eindruck oder Überblick darüber, was geschieht und was Menschen gerade bewegt. Die persönliche Ich-Zentriertheit wird überwunden. Wer zuhört, übt sich in der Fähigkeit zu reflektieren. Denn was anderes ist die Selbstreflexion, als sich selbst zuzuhören, um manchmal die eigenen Gedanken und Gefühle besser verstehen und daraus Schlüsse und Handlungsoptionen ableiten zu können. „Wer fragt, der führt“ ist seit jeher ein Leitspruch in der Moderation, aber auch für Führungspersönlichkeiten. Wer reflektiert, führt sich selbst und kann bei aktuellen Fragestellungen versuchen, Vergangenes mit Gegenwärtigem zu verknüpfen und das Resultat auf Zukünftiges zu projizieren.
Quellen:
Arendt, Hannah (1951): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
Schönherr-Mann, Hans-Martin (2006): Hannah Arendt – Wahrheit, Macht, Moral