Der Titel spielt an auf ein Frankfurter Café, welches in den 1930er-Jahren zu einem außeruniversitären Treffpunkt wurde: Das bürgerliche Café Laumer in Frankfurt-Westend erlaubte in angenehmer Atmosphäre sowie bei Kaffee oder Kakao und Kuchen einen geselligen und hierarchieübergreifenden Austausch zwischen Studierenden und Dozenten, zwischen Lehrenden und Lernenden. Hier trafen sich die Anhänger des Instituts für Sozialforschung um Max Horkheimer, Alfred Pollock und Theodor W. Adorno und diskutierten mit Karl Mannheim und Norbert Elias aus der Goethe-Universität. Beeinflusst von marxistischen Theorien und den aktuellen Erkenntnissen der Psychoanalyse durch Sigmund Freud und Alfred Adler diskutierten die Frankfurter Intellektuellen die Bedeutung der Soziologie als Lebensorientierung. Die bisherige Königsdisziplin Philosophie sollte von der Soziologie abgelöst werden. Man fühlte sich davon angezogen, aus dem Elfenbeinturm des theoretischen Wissens herabzusteigen und Erfahrungen einer angewandten gesellschaftsnahen Wissenschaft zu sammeln. Die derart Forschenden strebten nach einem interdisziplinären Austausch und waren besonders stolz darauf, eine Scientific Community mit verschiedenen Fachrichtungen wie Philosophie, Theologie, Ökonomie, Psychologie, Soziologie und Geschichte zu repräsentieren.

„Das soziologische Denken schien der Schlüssel zur Welt der Tatsachen zu sein. Max Weber nannte die Soziologie bekanntlich eine Wirklichkeitswissenschaft, eine Wissenschaft, die herausführt aus dem Elfenbeinturm und Zugänge zu den Phänomenen der Moderne frei legt.“ (S. 390)

Mit einem Maskenball bei Paul und Hannah Tillich beginnt die Bucherzählung von Wolfgang Martynkewicz um den illustren Kreis jener zeitgenössischen, vorwiegend männlichen Denker der 1930er-Jahre. Gesellschaftliche Zusammenkünfte und Vergnügungen gehörten zum gelebten Miteinander und zeichnen ein heiteres Bild einer Zeit, die glaubte, den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise beinahe überstanden zu haben. Ohne – bei aller Wachheit für die Instabilität der Weimarer Republik – die kommende Gefahr am Horizont, die beginnende Macht und den Terror der Nationalsozialisten, zu sehen. Sie diskutierten über ihre Theorien, über die Welt an sich und die Menschen in ihr. Sie sahen sich als Teil einer ökonomischen und sozialen Geschichte, die Probleme schafft, wie prekäre Arbeitsverhältnisse und Abhängigkeiten, derer sich eine Gesellschaft mit ihren einzelnen Mitgliedern erst bewusst werden muss, um sie danach lösen zu wollen und lösen zu können. Sie wählen bewusst den Maskenball, um eines jeden Vielheit nach außen zu tragen: Ein anderes Selbst zu zeigen bietet eine Möglichkeit, sich selbst in einer anderen Rolle darzustellen und wahrzunehmen. Es verwirrt, zu lesen, dass sich Frankfurter Intellektuelle bei einer solchen Veranstaltung ohne Scham (!) verkleidet als Nazis präsentierten.

Adorno, Horkheimer, Pollock, Mannheim, Elias, Tillich und am Rande einige mehr, wie Gabriele Oppenheim, Hannah Arendt (ISSO YouTube), Hans Jonas, Erich Fromm, Walter Benjamin, Günther Stern, Leo Löwenthal und Herbert Marcuse werden vorgestellt, anhand ihrer Denkrichtungen beschrieben und zueinander in Beziehung gesetzt, damit sich Vergleichendes und Unterschiedliches offenbart. Die Lesenden kommen den einzelnen Persönlichkeiten nahe und werden in ihrem Wirk- und Denkraum mit allen Widersprüchlichkeiten durch die Zeit bis 1943 begleitet. Dabei entsteht ein Bild der Thesen, Theorien und verschiedenartigen Denkgebilde, welches den fortschrittlichen Geist der Weimarer Republik aufzeigt und vor allem durch die Bekanntheit der Kritischen Theorie und die Frankfurter Schule bis heute nachwirkt.

Einigkeit herrschte darüber, dass die Wissenssoziologie eine höher entwickelte Stufe der Ideologienlehre darstellt, denn zur Krise der Wissenschaften gehörte ja, „dass alle Ideologien beanspruchten, die Ganzheit der Welt zu erfassen“. Auch die eigene Bereitschaft zur kontroversen Diskussion war groß, um Erkenntnisse wurde gerungen – und dabei nicht immer empathisch auf die Betrachtung und Meinung anderer eingegangen. Den verbalen Angriff auf sein Werk „Ideologie und Utopie“ durch Adorno nahm Mannheim gelassen hin mit der Bemerkung: „Besser vernichtende Kritik als Schweigen.“

Wolfgang Martynkewicz stellt die Gedanken, Thesen und Erkenntnisse der Charaktere jeweils für sich und dann meist in Verbindung zu den jeweiligen anderen Gedankenwelten dar. Er hält sich mit Kommentaren und Urteilen zurück, zeigt aber Widersprüchlichkeiten auf und hinterfragt Ungereimtheiten. Er lässt die Menschen hinter ihren Gedanken in Erscheinung treten, weist ihnen Motive, Fähigkeiten und Erwartungen zu, die sie menschlich machen. Wissenschaftlich fundiert und dennoch plaudernd erzählt, passen Werk und Titel gut zusammen: Im Café der trunkenen Philosophen lassen sich die Materie von Philosophie und Soziologie einfacher verstehen und die Welt hört zu, wenn kluge Köpfe miteinander debattieren.

Das Buch fragt im Grunde auch nach dem „Kit in der Gesellschaft“ und nach der Ursache für eine „Flucht ins Autoritäre“. Wissenschaft wird als Spiegel für die Widersprüche der Gesellschaft gesehen und soll die beobachtbaren Verhaltensweisen untersuchen. Die Faszination, die vom Autoritären ausgeht, konnte durch empirische Forschung belegt werden. Im Institut herrschte die allgemeine Auffassung, „dass der Faschismus sich ausbreiten und über kurz oder lang ganz Europa erfassen würde“. Das Buch hält auch nicht mit den persönlichen Widersprüchen der geistigen Elite hinter dem Berg:

„[…] erschreckende Einsicht, dass alle Professoren der deutschen Soziologie sich beeindruckt von Hitler zeigten und seine Führungsstärke lobten.“ (S. 249)

Persönliche Erfahrungen von Flucht und Emigration werden beschrieben. Auch das persönlich empfundene Defizit, der eigenen Sprachgewalt beraubt worden zu sein, wird thematisiert. Was manchen weniger zusetzt, dafür anderen umso mehr. Die Einschätzung der Hitler-Diktatur als „temporäre Erscheinung“ hat einige der meist jüdischen Denker länger in Deutschland verweilen lassen. Als Letzter im Bunde emigrierte Adorno 1936. In den USA wurde die anwendungsorientierte Forschung weiter ausgebaut: Die Kerngruppe des Frankfurter Instituts fand sich wieder zusammen und vergrößerte sich um zusätzliche amerikanische Soziologen. Hier „begreifen sich die Kritischen Theoretiker nicht mehr nur als Exilanten, sondern erkennen ihre privilegierte Erkenntnisposition“, um neue Forschungsthemen aufzugreifen und vorherige Untersuchungen weiterzuentwickeln.

Ausgabe der Büchergilde

Im Buch wird resümiert, dass Gedanken und Verhalten subjektiv geprägt sind, abhängig vom persönlichen Lebenslauf, dem kulturellen Umfeld und einer spezifischen Zeitdimension. Die Besonderheit, dass Menschen trotz gleicher Bedingungen, ähnlicher Erfahrungen und Lebensumstände zu unterschiedlichen Urteilen und Erkenntnissen kommen können, weist auf Individualität, aber auch auf Vielheit hin sowie auf die Sinnhaftigkeit von Meinungsaustausch. Eine Erkenntnis, deren Wert gerade heute wieder hochaktuell wird.

Wolfgang Martynkewicz gelingt es, den Lesenden auf eine informative und spannende Zeitreise mitzunehmen und die unterschiedlichen Persönlichkeiten anschaulich zu beschreiben. Zitationen und ein umfassendes Literaturverzeichnis weisen auf eine kompetente wissenschaftliche Arbeit hin und doch gelingt es dem Autor – ganz im Geiste der beschriebenen Scientific Community –, die Lesenden dorthin mitzunehmen, wo sich das Leben abspielt. Der Abstieg aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaften ist somit gleichzeitig ein Aufstieg in die Sphäre von Wissenschaftstransfer. Eine flüssig erzählte Geschichte über bemerkenswerte Frauen und Männer, die sich Gesellschaftsgestaltung auf die Fahnen geschrieben hatten. Eine gelungene Lektüre, wie wir sie gerne im Café erzählt bekommen oder selbst lesen wollen.

Fazit:

Eine sehr empfehlenswerte Einführung in das Denken und die Diskursvielfalt der Philosophen bzw. Soziologen der 1930er-Jahre und die Bedeutung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.

Das Café der trunkenen Philosophen ist 2022 im Aufbau Verlag erschienen (459 Seiten, 30,00 €, ISBN 978-3-351-03887-8) und 2023 bei der Büchergilde Gutenberg (460 Seiten, 32.00 €, Leinen, ISBN 978-3-7632-7497-0).

Zum Autor:

Wolfgang Martynkewicz, geboren 1955, studierte Literaturwissenschaft, Psychologie und Soziologie. Er ist freier Autor und Lehrbeauftragter für Literaturwissenschaft an den Universitäten Bamberg und Bayreuth. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse, u.a. über Jane Austen, Edgar Allan Poe, Arno Schmidt und Sabina Spielrein. In seinem Epochenbild Salon Deutschland – Geist und Macht 1900-1945 zeichnet Martynkewicz ein Bild vom Unbehagen in der Komplizenschaft von Kunst, Geist und Terror am Beispiel der Geschehnisse im Hause Bruckmann.

Vertiefung über die Frankfurter Schule z.B. unter:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/100-jahre-frankfurter-schule-kritische-theorie-gerechte-gesellschaft-100.html

Verfasserin: Beatrix Sieben, ISSO-Institut, Koblenz

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