Weshalb hilft uns all unser Wissen aus der Vergangenheit nicht, um daraus die richtigen Prognosen zu treffen? Sah denn niemand die Pandemie voraus? Wozu sind sie gut, die Vordenker und Zukunftsforscher?
Stellen wir uns vor, dass wir einhundert Exemplare der FAZ, der Süddeutschen und der Zeit analysieren, um aus diesem geballten Wissen Schlussfolgerungen für Gegenwart oder Zukunft abzuleiten. Es wird nicht funktionieren. Die Zukunft besteht aus mehr als der Summe ihrer recherchierten und vorausgedachten Gedanken, Erfahrungen und Annahmen. Nach Nassim Nicholas Taleb, einem libanesischen Börsenhändler und Publizisten, stellen wir uns das Morgen wie das weitere Gestern vor und ignorieren die Möglichkeit, dass es einen schwarzen Schwan gibt, eine völlige Ausnahme von jeder uns bekannten Regel, wenn wir selbst noch nie einen gesehen haben. Wir glauben nur, was wir mit unseren eigenen Sinnesorganen wahrgenommen und erkannt haben.
Wir leben gerne gedankenlos, heiter, gegenwärtig, hedonistisch, jammernd oder einfach vor uns hin. Ist das so falsch? Ein bewusstes Leben bedarf eines Motors, der dem Wissen standhält, fehlbar zu sein und über keinerlei Sicherheiten zu verfügen. Das schürt Angst. Mut aber bedeutet, mit der Verzweiflung weiterzumachen. Es ist eine Entscheidung, der Angst nicht die Kontrolle zu überlassen. Rückblickend sehen wir klarer und erkennen, was wir im Augenblick nicht haben sehen können oder wollen. Entwicklungen oder Erfindungen wie das Internet oder das Smartphone und die Lasertechnik sind „schwarze Schwäne“ für eine lange Zeit. Wir sehen sie nicht und wir sehen nicht, was sie mit sich bringen. Diese Unvorhersehbarkeit macht sie vergleichbar und besonders. Nassim Nicholas Taleb ordnet sogar den Untergang der Titanic in die Kategorie der schwarzen Schwäne ein. Technikgläubigkeit und subjektive Fehleinschätzung sind Spiegel einer Epoche, die über alle Zweifel erhaben schien.
Sokrates trank den Schierlingsbecher, da seine Zeit 399 v.Chr. und die Bürgerinnen und Bürger Athens nicht reif waren für das sokratische Denken. Die sokratische Leitformel „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ mutete an wie eine Provokation, die den Wunsch nach Ordnung und Gesetzmäßigkeiten untergräbt. Zweifel und Unsicherheiten gelten bis in unsere heutige Zeit hinein als Schwäche. Wir lieben die Sicherheit und geben uns lieber mit Scheinsicherheiten zufrieden, als ohne sie sein zu wollen. Nichts zu wissen, lässt sich nicht als Leitidee für ein Volk und zur Führung einer Gesellschaft verwenden.
Sind wir also nicht unseres Glückes Schmied und frei darin, unsere Entscheidungen aus der Summe aller Erfahrungen abzuleiten? Doch, unbedingt. Es wäre nur hilfreich, sie nicht zur allumfassenden Wahrheit zu erklären. Alle unsere Entscheidungen basieren auf dem reflektierten und recherchierten (und längst nicht gesamten) Wissen, das uns als Person oder Gesellschaft zur Verfügung steht, zu einem Zeitpunkt und in dieser spezifischen Situation.
Daraus folgern wir und leiten basierend auf unseren Erfahrungen, Entscheidungen und Handlungen ab, alleine oder als Gruppe und nach bestem Wissen und Gewissen. So wäre es wünschenswert. Und darin liegt eine unbedingt bemerkenswerte menschliche Errungenschaft. Die Fehlbarkeit all unserer Entscheidungen kommt auf einer höheren Wissensstufe dazu, mit der Einordnung des Menschen als einem beschränkten Wesen.
Dieses Wissen befeuert und ermutigt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jeder Disziplin, ob Philosophinnen oder Naturwissenschaftler. Von der Frage getrieben, genau herauszufinden, was sie nicht wissen, scheuen gerade Virologen und Mediziner keine Mühe und kein Engagement. Jede und jeder von ihnen könnte etwas maßgeblich Neues entdecken und zur Aufklärung von Unwissenheit beitragen. Das wäre der Preis aller Mühe, eine Belohnung auf höchstem intrinsischem Niveau.
Die Freude des Forschenden ist der Genuss der Erkenntnis. Der ungarisch amerikanische Psychologe, Mihály Csíkszentmihály, beschreibt Flow als ein Vergessen von Raum und Zeit, welches nur durch Konzentration und Hingabe möglich wird. Hingabe bei jeder denkbaren Art von wirksamer und überzeugender Tätigkeit. Hingabe benötigen auch Ärztinnen und Ärzte und Pflegerinnen und Pfleger, die sich aufopfernd der Heilung und Versorgung von Kranken in den Zeiten einer Pandemie und darüber hinaus als Lebensziel verschreiben.
Und so fügt es sich zusammen das Denken und das Handeln. In der Klarheit nicht alles vorauszusehen, in der Einsicht durch Unwissenheit begrenzt zu handeln und in der Freude, mit Konzentration und Hingabe die eigene Entscheidung im Rahmen der Möglichkeiten umzusetzen. Für Angst und Zweifel bleiben dabei nicht viel Zeit übrig; diesen Luxus leisten sich höchstens die Untätigen.
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© ISSO 26.03.2020. Autorin: Beatrix Sieben, Illustration: Tom Fiedler. Dieser Beitrag darf unter Nennung von Quelle (ISSO), Autorin und Illustrator frei verwendet werden.
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