Der Held muss in die weite Welt hinaus und Abenteuer erleben, um ein Held zu werden – und eine Geschichte zu haben. Und was ist mit der Heldin? Diese Frage stellt sich die bekannte Filmregisseurin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin: Doris Dörrie erzählt von drei Reisen, die sie im Jahr 2019 unternommen hat. Aus ganz unterschiedlichen Gründen führten sie diese Reisen in die USA, nach Japan und nach Marokko. Dörrie schaut dabei durch ihre ganz persönliche Heldinnenbrille und zeichnet ihre Erlebnisse, Begegnungen und Erkenntnisse auf. Diese Reisen sind umso bemerkenswerter, da ihnen ein weltweiter Reisestopp infolge der Coronapandemie, verbundenen mit dem Lockdown 2020, folgte. Dörrie berichtet davon, was es bedeutet, als Frau in der Welt unterwegs zu sein und sich immer wieder neu dem Ungewissen, Fremden auszusetzen und dabei den eigenen Ängsten, Denkgrenzen und Vorurteilen mutig ins Auge zu sehen. Beobachtend, reflektierend und schlussfolgernd, macht sich in ihr die Filmregisseurin bemerkbar, die in Bildern, Szenen und Geschichten denkt und schreibt.
San Francisco
Die Reiseerzählung beginnt in San Francisco mit dem Besuch eines Filmfestivals. Dörrie reflektiert, dass sie bereits in der Kindheit mit den Eltern viel gereist ist und Reisen den Horizont erweitert: „Wer nicht reiste, galt als engstirnig und wunderlich …“ Diese elterliche Einstellung führte auch dazu, dass die Autorin in den USA studierte, was in den frühen 1970er-Jahren noch höchst ungewöhnlich war – vor allem für eine junge Frau.
San Francisco ist auch die Heimat von George Lucas Firma Industrial Light & Magic, in der mit dem Star-Wars-Epos die Dramaturgie der sogenannten Heldenreise in die Welt gelangte und seitdem als „Blaupause jedem Blockbuster“ zugrunde liegt. „Der (zukünftige) Held, oft schwach und blass, ein Schisser, Muttersöhnchen, Versager, muss aus dem Haus, raus aus der gemütlich miefigen Wohnküche, rein ins Abenteuer. Das kann auf vielfältigste Art und Weise geschehen: durch ein Missgeschick, […] durch eine miese Prophezeiung, die man mit sich herumschleppt […]. Egal wie, der Held muss aufbrechen, denn wenn er diesen Aufruf zum Abenteuer ausschlägt, bleibt er für immer ein Waschlappen, Trottel und Weichei – und es gibt keine Geschichte.“
Die Heldin, die aufbricht, folgt nicht dem Monomythos, der für die Frau an der Seite des Helden gilt, denn diese bleibt zu Hause und wartet auf ihren Helden, macht sich Sorgen um ihn und bleibt ihm treu. Für Dörrie folgt die Geschichte der Heldin dem eigenständigen Aufbruch, da „jede Reise unweigerlich den Stationen der Heldenreise folgt und Konflikte deshalb unausweichlich sind“. Das Ende der Reise ist dafür besonders aufregend und ist beinahe mehr, als der Titel verlangt.
Tokio
In Tokio trifft sich Dörrie mit einer japanischen Freundin, die sie Jahre zuvor in Kyoto kennengelernt hat und deren persönliche Geschichte sie einwebt, deren eigene Heldenreise. Außerdem bindet Dörrie viele soziokulturelle Beobachtungen ein, sie weist sich damit als Kennerin der japanischen Kultur aus. In über vierzig Jahren hat sie sich ihren eigenen Zugang zu dieser Welt des Ostens angeeignet. „Ein gedeckter Tisch ist wie ein Versprechen, die Ankündigung einer Geschichte. Eine Geschichte schreiben ist wie einen Tisch decken.“ – ob mit Weisheiten des Zenmeisters Dogen, der für die Akzeptanz von Vielfalt wirbt, oder mit der Unerschrockenheit der Ama-Meerfrauen, die ohne Atemmaske bis zu zwanzig Meter tief tauchen, um Muscheln, Seeigel oder andere Meeresfrüchte heraufzuholen. In Japan gelten diese Frauen als frech und unabhängig, da sie ihr eigenes Geld verdienen.
Marokko
Bei einem Ausflug zum Atlas-Gebirge zeigt sich, dass Neugier und Mut manchmal stärker sind als Ängste und Vorurteile – und dass Abenteuer zu zweit lustiger sind. „Aber warum wollen wir uns immer und überall auf der Welt abgrenzen, isolieren und klassifizieren, wer dazugehört und wer nicht“. Die Rückkehr an einen Ort, der als Schauplatz der Vergangenheit unschöne Erlebnisse wachruft, veranlasst Dörrie, mit einer alten Geschichte von Abhängigkeiten aufzuräumen. „Das Reisen katapultiert in pure Gegenwart“, so die Feststellung von Dörrie, und auch ihre Schlussfolgerung, dass sie vielleicht deshalb so gerne reist.
In jedem Falle bietet das Leben viele Chancen für Neuanfänge und somit ausreichend Gelegenheiten für Heldinnenreisen, wenn diese sich nur aus dem Haus begeben. Im Klappentext zum Buch wird Denis Scheck zitiert: „Ein Buch, das Lust aufs Lesen, aufs Leben und auf die Liebe macht.“ Es macht auch ganz große Lust aufs Reisen, auch wenn man vielleicht nicht unbedingt jede der Reisegeschichten nacherleben möchte.
Buchrezension: Beatrix Sieben (2024)
Die Heldin reist ist im Diogenes Verlag als gebundene Ausgabe am 23. Februar 2022 erschienen (ISBN-Nr. 978-3-257-07184-9, 240 Seiten, 22,00 €) sowie als Taschenbuch am 20. März 2024 (ISBN-Nr. 978-3-257-24726-8, 240 Seiten, 14,00 €).