Vor ein paar Tagen war die diesjährige Oscar-Verleihung. Wussten Sie, dass es etliche alternative Oscars gibt, die natürlich nicht so heißen dürfen, weil der Begriff geschützt ist? Manche sind reine Trittbrettfahrer, andere wollen auf notwendige Veränderungen hinweisen. Einen möchten wir Ihnen heute vorstellen, den Big Brother Award. Jeder kennt hoffentlich den Roman 1984 von George Orwell oder die Verfilmung von 1956 mit dem ständig aus den Lautsprechern wiederholten Mantra „Big Brother is watching you“.

Bild: generiert mit KI LimeWire. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt.

Vermutlich werden viele jüngere Menschen vierzig Jahre nach 1984 den Zusammenhang nicht kennen und schlicht eine RTL-Serie unter diesem Titel vermuten – furchtbar, aber wahr. Für diese Leute: In dem Roman 1984, bewusst geschrieben als Zahlendreher im Jahr 1948, geht es verkürzt gesagt um einen fiktiven Überwachungsstaat, den wir heute im Zeitalter der vollständigen Digitalisierung, des möglichen Trackings jeder einzelnen Person und vieler individueller Kontrollmöglichkeiten längst um uns haben. 1984 geht nur einen Schritt weiter, die Überwachung wird zum Instrument einer in jeden Lebensbereich eingreifenden Diktatur, so wie im damalig stalinistischen Russland und modernisiert und perfektioniert in einigen Ländern dieser Tage. Mehr als genug Gründe, sich die Verfilmung noch einmal anzuschauen, hier auf Youtube zum Beispiel.

Zurück zum Thema. Es gibt tatsächlich eine Initiative, den Big Brother Award, die mehr oder weniger global und regelmäßig einen Negativ-Preis verleiht für Firmen und sonstige Organisationen, die sich in negativer Weise um Datenschutz, Überwachung und die weiteren Themen des Orwell’schen Romans verdient gemacht haben. Diese Verdienste werden mit einer Trophäe belohnt. Den ersten Award hat übrigens im Jahr 2000 die Payback-Karte gewonnen, die nur dazu dient, dem bedenkenlosen Inhaber Daten über sein Konsumverhalten zu entlocken gegen einen lächerlichen Rabatt auf seine Einkäufe. 2015 ging der Preis an Hello Barbie, eine Puppe, die sich die Sorgen von Kindern per Mikrofon anhört und über WLAN an entsprechende Server überträgt.

Die letzte Preisverleihung fand im April 2023 statt, und wir haben extra fast ein Jahr mit dieser Nachricht gewartet, falls sich die Dinge bessern sollten. Gewonnen hat den Preis in der Kategorie Kommunikation – Zoom. Ja, diese Plattform, die wir alle nutzen. Damit das auch ankommt, wurde der Preis mittelbar auch sämtlichen Nutzer von Zoom gewidmet, „insbesondere Menschenrechts- sowie Umwelt- und Klimaorganisationen, die Zoom einsetzen und damit ihre Teilnehmer:innen der Überwachung preisgeben, obwohl es freie und datenschutzfreundliche Alternativen gibt“ (Zitat).

Treffer, versenkt. Wir nutzen Zoom bis heute, in dem Wissen, dass (wieder Zitat aus der Preisverleihung) „Zoom als US-Unternehmen Daten an Geheimdienste weiterleiten muss, aber dennoch behauptet, DSGVO-konform zu sein. Zoom untersteht überdies chinesischer Kontrolle und Zensur, da relevante Teile der Entwicklung in China stattfinden.“ Insgeheim ahnen wir, dass viele der freundlich formulierten Datenschutzversprechungen nichts halten. Hauptsache, wir haben sie vorliegen.

Das offenbart das Digitale Dilemma, in dem unsere Gesellschaft vierzig Jahre nach 1984 steckt. Den Komfort der digitalen Kommunikation will niemand mehr missen, und die Risiken verdrängen die meisten von uns mit einem lässigen „ich habe doch nichts zu verbergen“. Die Furcht vor der Preisgabe persönlicher Daten treibt kaum jemanden um, die Furcht vor Datenverlust oder einem Angriff durch Hacker aber sehr wohl. Ja was denn nun? Nicht erst seit der Payback-Karte bezahlen wir an jeder Ecke fröhlich mit unseren Datenprofilen. Viele Teile der Wirtschaft (siehe weitere Preise aus dem obigen Award) zwingen ihre Kunden mittlerweile zu vollständig digitalen Prozessen. Analog und persönlich geht teilweise gar nicht mehr.

Kern des Digitalen Dilemmas ist, dass es für fast alles sichere oder bessere Alternativen gibt, von der Suchmaschine wie Ecosia bis zur Konferenzsoftware wie Big Blue Button, dass diese Alternativen aber stets weniger Leistung oder Anwenderfreundlichkeit bieten, denn es gehen dort nicht die gleichen Millionenbeträge in die Entwicklung. Hat es ein System wie Zoom erst einmal in die Spitzengruppe der Anwenderfreundlichkeit geschafft, wird der Datenschutz plötzlich zur formalen Nebensache. Man schaut nicht mehr so genau hin, diese ausgeklügelten Datenschutzbestimmungen werden schon das Beste an Verbraucherschutz beinhalten.

Tun sie gelegentlich nicht. Und übrigens: Verbraucherschutz ist so etwas wie die Pille danach. Wäre es nicht besser, das alles bräuchte es gar nicht? Wenn Sie wie früher in Ihrem Computer sorgenfrei irgendwo draufklicken könnten, ohne immer Angst vor Unrat zu haben? Wie schwierig es im Übrigen ist, politisch mit der Entwicklung Schritt zu halten, zeigen die wenig glücklichen Entwürfe rund um den digitalen Euro. Oder lesen Sie nach, wie sich der „Digital Services Act“, die Regulierung eines EU-Binnenmarktes für digitale Dienste, in Deutschland als Gesetzestext liest. Nur für die Überschrift brauchen wir 64 Worte oder 464 Zeichen. Die Dinge sind halt kompliziert.

Wir bei ISSO haben es auch nicht geschafft, wohl auch nicht mit großem Ehrgeiz versucht, an Zoom vorbeizukommen. Es ist so schön praktisch und funktioniert meistens. Und gegen Unwohlsein ersten Grades hilft ja die oben genannte Einstellung „wir haben nichts zu verbergen“. Vielleicht schauen wir den alten Film 1984 doch noch einmal an und achten auf Passagen, die einen solchen Dialog beinhalten. Und vielleicht probieren wir häufiger mal ein paar Tage Digital Detox. Würden Sie einen Kurs in Digital Detox mitmachen?

Die 24. BigBrotherAwards, „die Oscars für Datenkraken“ (Le Monde) werden am 11. Oktober 2024 in der Bielefelder Hechelei vergeben. Es können noch Nominierungen eingereicht werden!

HINTERGRUND
Big Brother Award. Lesen Sie hier gerne nach zu Preisverleihung und Laudatio.
https://bigbrotherawards.de/2023/zoom

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