Beobachtungen und Reflexionen aus LTI

Die Macht der Worte – Sprache als Instrument von Machtmissbrauch

Victor Klemperers berühmtes Buch Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus LTI (Abkürzung für lateinisch Lingua Tertii Imperii – „Sprache des Dritten Reiches“) ist bereits 1947, das heißt unmittelbar nach Kriegsende im Aufbau Verlag erschienen. Die Beobachtungen dazu stammen aus seinen Aufzeichnungen mit dem Titel Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (Tagebücher von 1933 bis 1945): Victor Klemperer hat darin die gesellschaftlichen Veränderungen von Januar 1933, also um die Zeit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, bis zum Kriegsende und zur Kapitulation Deutschlands im Juni 1945 schriftlich festgehalten. Nicht tägliche, aber mindestens wöchentliche Einträge vermitteln seine Beobachtungen, Gedanken, Gefühle und Erlebnisse. Er war sich bewusst, dass diese Aufzeichnungen sein Leben und das seiner Frau und ggf. das seiner Freunde gefährdeten.

Als Sprachwissenschaftler legte Klemperer sein Augenmerk auf die Sprache, die von Beginn an als ein nationalsozialistisches Instrument der Gleichschaltung angesehen werden kann. Klemperer zeigt auf, wie Abkürzungen und Wortschöpfungen die gebräuchliche Alltagssprache veränderten und wirkstark für Stimmungsmache eingesetzt wurden. Wörter wie Gleichschaltung oder Weltanschauung zeigen auf einen Blick das ganze Potenzial ihrer manipulativen Kraft und Gesinnung. Der Autor führt seinen Lesenden vor Augen, wie Sprache zum Ausdruck von Denken wird – und damit einen unmittelbaren Einfluss auf bewusstes oder unbewusstes Verhalten hat. Der Einsatz von Sprache beeinflusst dadurch die Wirklichkeit: Was ich oft genug höre, wird zur Wahrheit, die ich anfangs noch anzweifele und vielleicht irgendwann selbst glaube.

Nach Heinrich Detering, einem gegenwärtigen Literaturwissenschaftler, legte Klemperer die Matrix der faschistischen Grammatik frei. Und dafür braucht es nur knapp 160 Seiten. Die Neuauflage des Büchleins Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus der LTI durch die Büchergilde Gutenberg kommt passend in einer Zeit, da sich allerorts diskriminierender Sprachgebrauch einschleicht. Manchmal sogar in der besten Absicht, Diskriminierung zu verhindern: Die Anwendung von Sprache birgt eben auch die Gefahr, Ausdruck von einseitigem Gruppendenken zu sein. In Talkrunden und Diskussionen taucht verstärkt der Begriff „Cancel Culture“ auf, was Streich- oder Abbruchkultur bedeutet. Julian Nida-Rümelin bezeichnet „Cancel Culture“ als den Versuch, ein vermeintliches Fehlverhalten, beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen – häufig von Prominenten – öffentlich zu ächten. Es wird zu einem generellen Boykott dieser Personen aufgerufen. Liest man Klemperer, kommt einem dieses Verhalten bekannt vor und hinterlässt einen faden Geschmack.

Was aber macht die Beobachtungen Klemperers auch in der heutigen Zeit so aktuell? Diskriminierende Sprache vergiftet das Miteinander, schürt Ängste und Zweifel, sucht Sicherheiten bei „starken Typen“, übt Macht aus und dient vor allem denen, die mit Freude Gift streuen wollen, um davon selbst zu profitieren. Klemperer spricht vom täglichen Sprachgift und zeigt die Spuren einer durch Sprache vergifteten Verhaltensanpassung auf, die bis zur Entmenschlichung führt, da wo es um die Juden oder den jüdischen Krieg geht.

„Worte können sein wie winzige Arsendosen; sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu haben, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“

Victor Klemperer in Die Sprache des Dritten Reiches

Klemperer sensibilisiert für die Folgen, die eine gleichgeschaltete und kontinuierlich wiederholte Sprachanwendung mit sich bringt. Schon Hannah Arendt weist in ihrem Interview mit Günter Gaus aus dem Jahre 1964 darauf hin, dass die Gleichschaltung ein großes Übel war, denn es machte Freunde zu Mitläufern und verunsicherte einen selbst darin, Feind und Freund zu unterscheiden.

[…] der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden.

Victor Klemperer in Die Sprache des Dritten Reiches

Auch die bewusste Steuerung, durch absichtsvoll gewählte Worte und virtuose Demagogen, half dem herrschenden System, seine ganze Macht zu entfalten und das deutsche Volk als ein gequältes und verkanntes Opfervolk darzustellen. Klemperer warnt vor dem zersetzenden Charakter eines gezielt manipulativen Sprachgebrauchs, dem sich nur wenige zu entziehen vermochten. Da wo Ausgrenzung zur Methode wird, lässt sich bald schon kein Wir mehr gestalten. Anderes Denken und andere Auffassungen wurden systematisch aufgespürt, unterbunden oder vernichtet.

Klemperers Botschaften in Die Sprache des Dritten Reiches zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass er sie unter weitgehend bekannte LTI-Überschriften bündelt, die mit ihrer Einfachheit damals wie heute ihre bestechende Wirkung entfalten. Es bedarf zu jeder Zeit einer reflektierten Auseinandersetzung mit Sprache, um rassistische, intolerante und die Demokratie schwächende Aussagen zu entlarven. Klemperer bietet überzeugendes historisches Material, um die Bedeutung von Sprache einzuordnen und uns mit genügend Wissen auszustatten, um Gefahren zu erkennen und Missbrauch aufzudecken und anzuprangern. Es geht dann nicht mehr nur um die Macht der Worte, sondern um Manipulation und systemische oder strukturierte Diskriminierung. Macht wird dabei zu Gewalt, denn sie verliert ihre freiheitliche Urteilsfähigkeit. Victor Klemperers Lebenswerk, für das er sein Leben einem hohen Risiko aussetzte, ermöglichen uns einen Wissensvorsprung. Rausreden geht also nicht. Wir haben davon gewusst!

Fazit:

Eine sehr empfehlenswerte Lektüre über den Einsatz und die Bedeutung von Sprache im Dritten Reich – und gleichzeitig eine Reflexion über und Sensibilisierung für die Macht von Sprache im Allgemeinen.

Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus der LTI ist 1947 im Aufbau Verlag erschienen und 2022 bei der Büchergilde Gutenberg (Klappenbroschur, 160 Seiten, 18.00 €, ISBN 978-3-7632-7400-0)

Zum Autor:

Victor Klemperer, geboren 1881 in Landsberg an der Warthe und gestorben 1960 in Dresden, war ein deutscher Literaturwissenschaftler, Romanist und Politiker. Als Sohn eines Rabbiners wurde er 1935 von den Nazis in den vorläufigen Ruhestand versetzt. Als Chronist dokumentierte er die Jahre des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945. Er verfasste Beiträge über das deutsche Kaiserreich und über die Weimarer Republik. Klemperer gilt als einer der wichtigsten Chronisten vom Überleben des Holocaust. Bis zu seinem Tode lebte und wirkte er in der DDR. Er sah im Kulturbund sein wichtigstes öffentliches Betätigungsfeld, wurde in den Zentralvorstand der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) gewählt und schließlich von der Akademie der Wissenschaften der DDR als Ordentliches Mitglied aufgenommen. Von 1950 bis 1958 gehörte er der Fraktion des Kulturbundes in der Volkskammer an. Die 1956 öffentlich gewordenen Verbrechen Stalins desillusionierten den alternden Wissenschaftler, was seine Tagebücher (1945 bis 1959), durch eine gewisse Flucht ins Private, aufzeigen.

Verfasserin:

Beatrix Sieben, ISSO-Institut, Koblenz

 

 

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner