Oder: Der kollektive Kloß im Hals.

 

Ein Elefant ist ein ordentlich großes Tier und eigentlich nicht zu übersehen. Elefanten treten deshalb gerne auch sprichwörtlich auf, nicht nur in Porzellanläden. Der „Elefant im Raum“ ist eine Metapher, die aus dem Russischen kommt und im 19. Jahrhundert bei Dostojewski belegt ist. Zunächst war damit nur eine schlicht nicht zu übersehende Tatsache gemeint. In unserem Sprachraum ist der „Elefant im Raum“ nicht sehr verbreitet, das Bild ist aber doch hilfreich. Es ist über die Jahre nämlich eine Bedeutung hinzugekommen, die uns alltäglich Ärger und Nöte beschert. Der „Elefant im Raum“ umschreibt einen Sachverhalt, den alle kennen, über den man aber nicht spricht, aus welchen Gründen auch immer.

Konflikte, die man verdrängt, werden meist nicht von selbst wieder kleiner und verschwinden. So auch der Elefant. Irgendwann ist er so groß geworden, dass er alles dominiert. Seine Ernährung besteht aus Verdrängen und Vermeiden, Konfliktscheu, Bequemlichkeit, Stagnation, fehlendem Mut, Angst vor den Folgen und so weiter. Das ist, um bei dem Bild zu bleiben, keine gesunde Ernährung.

Der Elefant der Überschussproduktion. Gezeichnet von Tom Fiedler

Vielleicht hatte sogar Hans Christian Andersen eine ähnliche Idee wie sein Zeitgenosse Dostojewski, als er „Des Kaisers neue Kleider“ schrieb. Dort wird etwas hinzugefügt, hier wird etwas weggelassen, die Idee ist dieselbe. Auch Andersen geht es um eine offensichtliche Tatsache – der Kaiser ist nackt – jeder sieht es, aber allen steckt sozusagen ein kollektiver Kloß der Verdrängung im Hals, bis ein unschuldiges Kind die Realität benennt: Der hat ja gar nichts an. Da erst kippt die Geschichte um. Es braucht die Figur des „unschuldigen Kindes“, das noch nicht gelernt hat, zu verdrängen, wegzuschauen, sich anzupassen. Im Märchen macht diese Geste allen Erwachsenen Mut, die Wahrheit zu wiederholen, bis auch dem Kaiser die Augen aufgehen. Ein Wunschtraum, dass das Offensichtliche, eine gewisse Wahrheit, sich am Ende durchsetzt?

Kaiser gibt es immer weniger, Elefanten zum Glück noch einige. Bleiben wir also bei dieser Metapher und seien wir ehrlich: Unsere Umgebung ist angefüllt von Zuständen, die wir sehen, manchmal auch einsehen, irgendwie hinnehmen, aber nicht ändern – und eben sehr oft nicht einmal darüber sprechen. Das hat sich so eingeübt, in der Familie, in der Beziehung, im Beruf, im Freundeskreis und in der ganzen politischen Welt. Bis dahin, dass scheinbar jeder wusste, Herrn Putin durfte man nicht trauen, aber keiner hat es gesagt und kein Staat konsequent gehandelt. Einen größeren Elefanten im globalen Raum kann man wohl grade nicht als Beispiel bringen.

Diese Elefantengattung ist überall und keinesfalls vom Aussterben bedroht. Greifen wir aus der großen Herde einen beliebigen Elefanten heraus, den Elefanten der ungebremsten Überschussproduktion. Wir stellen unendlich viel mehr her, als wir benötigen, und sind vielfach der Menge und der Art unserer Erzeugnisse nicht mehr gewachsen. Das geht von Milliarden an Plastikteilen, die die Umwelt ruinieren, bis zu Milliarden von Posts und Fake News, die vielen Menschen das Gehirn vernebeln. Dem Überfluss des Unnützen, Unnötigen und Falschen sind wir kaum mehr gewachsen, damit wird sogar perfide Politik gemacht. Wir wissen es, produzieren aber weiter Produkte, Nachrichten, Filmserien und was noch immer in einer Masse, die kein Mensch mehr konsumieren kann und die insgesamt betrachtet nur Ressourcen vernichtet, und jeder weiß es. Wenn das kein Elefant ist.

Aber wer zieht diesen Elefanten aus seiner Ecke, macht aus ihm einen gesellschaftlichen Konsens, eine Übereinstimmung, die zum Handeln befähigt und auch anregt? Wir sind der Komplexität der von uns geschaffenen Produkte und Umgebungen nicht mehr gewachsen und blenden das einfach aus. Wie Carl Amery 1980 in einem Beitrag „die Einsicht in unsere Grenzen“ schrieb: Das künstliche System stirbt an seiner eigenen Überkompliziertheit. Wir wissen das seit Jahrzehnten und lassen es als Elefant in der Ecke stehen, mit einem verstaubten Schild um den Hals, „einfach weniger produzieren“.

Haben Sie zu Hause auch einen Elefanten herumstehen? Ein schlecht und recht gehütetes Problem, das nicht mehr besprochen wird? Denken Sie nicht, Ihre Wohnung oder Ihr Haus wären groß genug und ein, zwei Elefanten würden da kaum auffallen. Der Elefant geht nicht von selber weg, er ist beharrlich und richtet sich ein, gern auch in großen Häusern. Wir kommen in zu vielen Gebieten nicht vom Sehen ins Handeln, sind stattdessen sprachlos, haben einen kollektiven Kloß im Hals. Manche Elefanten sind schon so alt, dass man glaubt, sie nur noch liebevoll beheimaten zu können. Das aber ist falsch, denn das Problem verschwindet in der Regel nicht. Sonst wäre der Elefant ja nicht mehr da.

Gehen Sie doch heute mal auf Elefantenjagd, ja, Sie! Der Elefant im Raum steht für die verdrängten und verkrusteten Dinge. Vielleicht lässt er sich mit unbedarfter Offenheit, die wir „Erwachsenen“ uns kaum mehr zutrauen, doch noch aus seiner Ecke holen. Und vielleicht lösen Sie ein persönliches Problem, das schon lange unlösbar erschien.

Trörööö!

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