Sie kam aus Mariupol ist eine Suche nach den Wurzeln der Familie und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunftsgeschichte. Natascha Wodin versucht damit auch, sich selbst zu verorten. Sie will verstehen, warum sie und ihre Eltern sich so heimatlos fühlen im fränkischen Nachkriegsdeutschland. Und sie will verstehen, weshalb ihre Mutter sich mit Mitte dreißig das Leben nahm und was dies alles zu tun hatte mit den historischen Ereignissen jener Zeit: Dem Zerfall des Zarenreichs, der Revolution in Russland, der Besetzung der Ukraine durch die Nationalsozialisten, Rekrutierung der Zwangsarbeitenden für Nazi-Deutschland, dem Sieg der Alliierten und der Nachkriegszeit in Deutschland. Die sich wechselseitig ablösenden totalitären Ideologien hatten kein Erbarmen mit den einzelnen Menschen, deren Hoffnungslosigkeit unbeachtet blieb. Manche von ihnen blieben dauerhaft heimatlos und konnten nicht zurück in ein Land, dass sie als Verräter ablehnen würde.
Wie Hermann Hesse es ähnlich im Steppenwolf formuliert, kamen höchst unglückliche Umstände zusammen. Hesse beschreibt dies mit „Krankheit der Zeit – indem das menschliche Leben da zur Hölle wird, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden“. Vielleicht geht es der Mutter von Wodin oder ihr selber ähnlich wie dem Steppenwolf, „der zu denen gehört, die zwischen zwei Zeiten hineingeraten sind, zu denen, deren Schicksal es ist, alle Fragwürdigkeit des Menschenlebens gesteigert als persönliche Qual und Hölle zu erleben“.
Wodin beobachtet und beschreibt die unterschiedlichen Lebensumstände dieser Zeitenwende. Sie beschreibt die russischen und die deutschen Geschehnisse mit teils wundervollen Landschaftsbeschreibungen und mit teils nüchterner Distanz im Hinblick auf die menschlichen Schicksale. Das macht den sehr bitteren Stoff aushaltbar. Sie liefert Zahlen, die bekannt sein sollten, doch wenig Öffentlichkeit bekommen. Weshalb wissen wir in Deutschland bis heute so wenig über das Schicksal von Millionen von „Displaced People“? Von Menschen, die das nationalsozialistische System mit ihrer Arbeit unterstützen mussten und später geblieben sind, weil sie nicht zurückkehren konnten?
Wodin trägt umfangreiche Informationen zusammen, dafür hat sie wohl einige ihrer Lebensjahre investiert. Das 2017 veröffentlichte Buch Sie kam aus Mariupol rekonstruiert das Schicksal der eigenen Mutter und schafft es darüber hinaus, dem Leben von Millionen, die zur Zwangsarbeit verdammt waren, ein schriftstellerisches Denkmal zu setzen. Sie lässt die Lesenden teilhaben an der Hoffnungslosigkeit und der Traurigkeit und dem dabei manchmal überwältigenden Weltschmerz. Wer sich der Weltgemeinschaft zugehörig fühlt und empathisch mitfühlt, versteht, weshalb die Mutter überfordert war und depressiv wurde. Weshalb sie nicht die Kraft hatte, für sich selbst oder aber für die Kinder im Leben zu bleiben. Zu viele Verluste, zu wenig Freundlichkeit, keine Perspektive. Das Kind spürt die Ohnmacht und kann nichts dagegen tun. Oder doch? Vielleicht trifft es eine Entscheidung: Nicht zu urteilen. Nicht über die Mutter, nicht über die Familie, nicht über die Russen, nicht über die Deutschen. Sondern auf die Suche zu gehen, nach Herkunft, Wurzeln, Vergangenem und Stärkendem. Das findet sich einmal durch die unerwartete Hilfe eines Menschen, der ihr bei dieser Suche in der Vergangenheit hilft und dabei zum Freund wird und darüber hinaus in der Familiengeschichte, wo starke Frauen sichtbar werden und sich die Ursprünge ihres eigenen musischen Talents klar und deutlich zeigen.
Wodin schreibt die Geschichte eines elfjährigen Mädchens, das beobachtet, fühlt, sich ängstigt und unerschrocken alles wissen will, das aber nicht urteilt. Im Schreiben der Geschichte kann das Kind vielleicht den Verlust der Mutter betrauern und dabei den eigenen Willen zum Leben formen. „Die deutsche Sprache wird zum starken Seil, das ich sofort ergreife, um mich daran hinüberzuschwingen auf die andere Seite, in die deutsche Welt“.
Geboren 1957 in Fürth, erhielt die Schriftstellerin mit siebenundsiebzig Jahren für ihr Lebenswerk den Joseph-Breitbach-Preis 2022 im Theater Koblenz überreicht.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
368 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498073893