Was sich öffnet, ist kein Vorhang und auch keine Holzkiste, sondern eine Holztür. Durch diese gelangt ein pubertierendes, nörgeliges Mädchen auf den Dachboden. Es hat sich fortgeschlichen, unverstanden und wütend, weg vom Vater und fort von einer Aufführung der Augsburger Puppenkiste, für die es sich zu alt fühlt. Thomas Hettche konfrontiert die Lesenden ab dieser Szene mit den Unterschieden zwischen der heutigen Medienwelt und der Zeit, in der das Puppenspiel entstand. Auf dem Dachboden ist es dunkel, unübersichtlich und ein wenig schaurig.
Der Zugang zur bildreichen, schnellen Medienwelt ist abgeschnitten, das iPhone schweigt. Kein Netz. Die Verbindung ist unterbrochen. Erst diese Trennung macht empfänglich für die Magie der alten Welt, über die sich viel erzählen lässt. Hettche erzählt mehrere Stränge parallel: Die Geschichte der Familie Oehmichen, eine Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und die Geschichte der Augsburger Puppenkiste von Beginn an. Für Fans der „Kiste“ gibt es viele spannende Informationen: Wann welche Puppen entstanden sind und wie die Stücke aufeinander folgten. Einblicke in die Handwerks- und Spielkunst. Es zeigt sich ganz en passant, welch faszinierendes Kunsthandwerk sich hier verbirgt und wieviel Aufwand die Fertigstellung auch nur einer Puppe bedarf, die nicht Puppe bleibt, sondern durch Sprecherinnen und Spielführende zum Charakter wird. Das Urmel, der Löwe, Jim und Lukas, der kleine Prinz, Kalle Wirsch oder der gestiefelte Kater: Manche dieser Figuren sehe ich so deutlich vor mir, als wohnten sie auf meinem Dachboden. Das Buch weckt Kindheitserlebnisse und aktiviert Gefühle. Die Türen der Holzkiste öffneten sich in meiner Kinderzeit jeden Sonntag um 11 Uhr, meist angekündigt von „häsischen“ Rundfunksprecher. Seit 1953 brachte der Hessische Rundfunk viele Stars der Puppenspiele in die deutschen Wohnzimmer.
Nach dem Krieg war die Sehnsucht nach neuen, unbelasteten Geschichten sicherlich besonders groß. Walter Oehmichen und seine Töchter hatten eigene Kriegs- und Nachkriegserlebnisse zu verarbeiten. Wen wundert es, dass sich die handgeschnitzten Marionetten hierfür besonders gut eigneten, die selbst ja geschichtslos waren und sich nichts hatten zu Schulden kommen lassen. Viele der Stars aus der Puppenkiste haben keine Familie wie Jim das Findelkind oder Urmel aus dem Eis.
Das Buch macht deutlich, dass die Magie der Puppen in ihrer Schuldlosigkeit liegt. Und da ist noch etwas, etwas Wiederentdecktes: Empathie ist wieder erlaubt. Empathie mit einem Stück Holz. Wo zuvor Empathie fehlte, jedenfalls für eine sehr große Anzahl von Menschen, die nicht zu den nationalsozialistischen Rassenbestimmungen passten.
Oehmichen hat für seine Töchter eine Erklärung bereit, die der Autor zum Buchtitel macht und die uns auch in der heutigen Zeit hilfreich sein kann. Der Herzfaden, so erklärt es Walter Oehmichen seinen Töchtern, der Herzfaden sei die Verbindung.
Dieser Herzfaden muss bei Hatü (Hannelore Marschall) besonders ausgeprägt gewesen sein, denn sie widmete ihr Leben ebenfalls der Augsburger Puppenkiste. Sie schnitzte, konzipierte und spielte. Und es ist ihre Lebensgeschichte, die uns Thomas Hettche erzählt. Bestimmt wäre sie mit diesem Buch, das ja auch eine Art Inszenierung ist, einverstanden.
Das Buch ist erschienen 2022, im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, ISBN, 9783462052565 als wunderschön illustriertes Buch mit siebenundzwanzig Zeichnungen von Matthias Beckmann bei der Büchergilde Gutenberg ggfs. nur noch bei Partnerbuchhandlungen erhältlich
Hier geht’s zum buch beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
Und hier noch ein LINK zur Augsburger Puppenkiste