Bilder von Katastrophen können manchmal fast schön sein, jedenfalls eine eigene Ästhetik haben. Von allen Bildern, die damals im März 2011 bei der Katastrophe von Fukushima in den Medien kursierten, hatte mich eines besonders berührt: Ein Klavier im Wasser versunken mit Bambuszweigen, die sozusagen den zurückgelegten Weg des Klaviers symbolisierten. Rundherum Wasser, sonst nichts. Ein Foto, das man kaum künstlerischer hätte komponieren können.
Ich war tief beeindruckt. Beim Anblick dieses Fotos, das lange auf meinem Schreibtisch lag, hatte ich eine Idee. Ich habe immer Ideen, etwas zu konstruieren oder zu schaffen. Mit kreativen Ideen verarbeite ich manchmal sogar Eindrücke des Tages. Im Fall des Wasserklaviers war die Idee: Ich schaffe für mich eine eigene Kunstform, Kunst aus Katastrophen-Überbleibseln. Mit den Kunstwerken würde ich die Eindrücke, die ansonsten ja kaum zu verarbeiten sind, eben be-arbeiten und durch eine eigene künstlerische Ausdrucksform auf die ökologischen Fehler hinweisen, die wir Menschen begehen. Ich würde in Katastrophengebiete reisen und dort quasi echtes Material sammeln, um daraus Kunstwerke zu fertigen. Umwelt-Kunst-Ausstellungen würden folgen.
Soweit die Idee 2011. Kurzfristig stand dann keine Katastrophe zur Verfügung, die ich hätte besuchen können, um Material zu sammeln. Da die Umweltschäden, die wir Menschen zu verantworten haben, im hohen Maß mit der Verbrennung fossiler Energie einhergehen, namentlich dem Erdöl und seinen Destillaten, war mein erster künstlerischer Pfad, Bilder und Skulpturen aus Asphalt zu gestalten, geschmolzen und mit Gold überzogen oder auf bizarre Baumwurzeln gegossen. Es war nicht einfach, den Asphalt so zu schmelzen, dass er ausreichend flüssig wurde und die Konturen beispielsweise der Baumwurzeln noch erkennbar waren. Elektrische Schmelztiegel, Messingbürsten, was habe ich nicht alles ausprobiert.
Heute bin ich froh, dass ich mit dieser Kunstform niemals an die Öffentlichkeit gegangen bin, obgleich ich damals schon Ausstellungen vor mir sah. Heute war ich nämlich in Ahrweiler.
Zunächst einmal hat mich Thomas Frey, ein hier in der Region bekannter Fotograf, verblüfft. Er hat nämlich im Raum Ahrweiler dieses Foto geschossen und über dpa veröffentlicht: Wieder ein Klavier, versunken im Schutt. Statt Bambus gibt es Tannenzweige und wir leben nicht am Meer, deshalb schwimmt das Klavier nicht so ästhetisch schön und ist stattdessen garniert mit ordentlich Styropor und Bauholz, aber das Bild ist das gleiche. Fukushima und Ahrweiler. Katastrophen, die nicht nur Klaviere aus der Bahn werfen.
In Fukushima war ich nicht, aber heute in Ahrweiler.
In meinem Kopf sind jetzt tausend Bilder, die alle aussehen wie das mit dem Klavier, nur ohne Klavier und mit mehr Schlamm. Das Klavierbild ist nämlich schöner als die Wirklichkeit. Die ist schlammig, sehr schlammig, so dass man darin nicht nur steckenbleiben, sondern auch sterben kann. Rund einhundert Menschen in diesem Ort ist das passiert, vorgestern Nacht. Ein Fotograf sucht natürlich nach ästhetischen Bildern, und wer nicht von dieser Katastrophe betroffen war, konnte in den Medien die Drohnenaufnahmen sehen, die aus der Höhe ihre eigene Ästhetik besitzen. Schau mal, das ist ja fürchterlich dort. Aber nett anzusehen aus der Distanz.
Ich bin nicht als Schaulustiger nach Ahrweiler gefahren, sondern um in einer Wohnung zu helfen, die unter Wasser stand. Und kurz hinter Sinzig war ich dann mittendrin und schlagartig so betroffen, dass meine Kunstgattung sich verunmöglicht hatte. Niemals hätte ich bei den Menschen, die hier ihr sämtliches Hab und Gut aus überfluteten Wohnungen räumten, Stücke für meine Kunstidee entnehmen können. Nicht einmal unter der großen Brücke der A61 bei Heimersheim, wo große Kipper die kompletten Reste von hunderten von Wohnungen, pausenlos angefahren von Traktorgespannen und LKWs, ausleeren und zusammenschieben. Nagelneue LED Fernseher neben Entspannungs-Fernsehsesseln, Unmengen von Kühlschränken, hunderte von Stühlen, Tischen, sonstigen Möbeln aller Art, alles überzogen mit einem mittelbraunen Tortenguss. Entrümpelung auf die harte Tour von Wohnungen, deren Bewohner bis vorgestern noch keinen Entrümpelungsbedarf hatten. Heute heißt es: Alles raus, davon ist nichts mehr zu retten.
Vorbei an Autos, die auf Zäunen hängen, durch Schlammberge und an Menschen, die unermüdlich schoben, schippten und schleppten, erreichte ich meinen Einsatzort. Das Haus liegt hunderte Meter von der Ahr entfernt an der Hauptstraße zwischen Neuenahr und Ahrweiler, dennoch stand das Wasser hier zwei Meter hoch. Etliche Helfer hatten die Wohnungen schon leergeräumt und waren dabei, den Schlamm herauszuschieben. Ein unfassbarer Dreck. Strom und Gas in der gesamten Region ausgefallen, also weder warmes Wasser noch Beleuchtung. In den Wohnungen dieses Hauses zeigte sich auch der Vorteil von Smart Homes, die ohne Strom natürlich gar nichts können, nicht mal einen Rolladen hochfahren. Da die Flutwelle nachts kam, waren alle Rolläden heruntergelassen, und die Menschen mussten jetzt am Tag den Schlamm aus verdunkelten Wohnungen herausschieben, eine zusätzliche psychologische Belastung.
Ich hatte ein gutes Stromaggregat und einen Hochdruckreiniger dabei, damit ließ sich die Haustür wieder gängig machen, zudem ein neuer Schliesszylinder eingebaut, denn natürlich ging durch den Schlamm das Schloss nicht mehr. Ein freudlicher Belgier namens René ein paar Häuser weiter lieh mir seine Sprühflasche WD40 Öl, in so einer Situation gibt jeder alles. Umso wichtiger, die Flasche persönlich mit Dank zurückzugeben. In den Wohnungen konnten durch geschicktes Anschliessen des mobilen Stromaggregats (wirklich nur für Fachleute empfohlen, sonst Lebensgefahr) die Rolläden wieder hochgefahren werden. Eine kleine Hilfe, aber immerhin. Ich fühlte mich nicht völlig nutzlos in dieser Katastrophe.
Überhaupt zeigen sich bekanntlich in Ausnahmesituationen die Menschen, wie sie wirklich sind. Packt einer beim Aufräumen an oder fragt er nur, welche Versicherung das jetzt bezahlt? Den ganzen Tag kamen Menschen vorbei, hielten an und fragten, ob man Wasser, Kaffee, selbst Würstchen haben wollte. Auch wenn ein wenig Krisentourismus dabeisein mag, diese Leute waren selbst nicht betroffen und haben wie selbstverständlich Wasser und Lebensmittel verteilt. Andere wurden beobachtet, wie sie aus den massenhaft zerstörten Autos Sachen entnahmen oder gar ausbauten. Gut, auch weggeworfene Lebensmittel ziehen Ratten an, das Leben ist vielfältig. Die Vielfalt zeigt sich in einem solchen Krisenszenario in geballter Form.
Übrigens lief niemand in Ahrweiler mit einer Maske herum. Ohnehin kann man diese Aufräumarbeit kaum mit den Einschränkungen der Atemmaske machen, die Abwesenheit aller Masken zeigt aber ein psychologisches Faktum: Kurzfristige Eindrücke und Sorgen schlagen langfristige. Das Hochwasser aufzuräumen ist für die Betroffenen und die Helfer auf einmal wichtiger als Corona. Das gilt auch für die Spaßgesellschaft. Die Teilnahme an einem Fußball-Endspiel ist wichtiger als die eigene Gesundheit oder die der anderen. Man hat fast ein wenig Verständnis.
Auf der Rückfahrt von Ahrweiler habe ich für mich Entscheidungen getroffen. Ich werde einige Räume in meinen Häusern, die zum Glück nicht von Unwettern befallen sind, leerräumen. Wir leben auf viel zu vielen Quadratmetern. Das Leben vereinfachen, dann kann nicht so viel davonschwimmen. Den Umwelteinfluss sehr deutlich einfach kleiner machen. Im übertragenen Sinne ein „moving to higher ground“ leben.
Wir müssen aber vor allem als Gesellschaft handeln, und dieses Handeln kann nicht nur so aussehen wie das, was manche Politiker in Gummistiefeln dieser Tage in die Kameras quatschen. Das Wort Hilfsversprechen kann man da leicht anders verstehen, so wie Hilfsargument. So höre ich es und in der Pause dahinter auch das unhörbare „hoffentlich bald wieder Normalzustand und weiter so“.
Wer sich gegen die Umweltbewegung und ihre Einsichten stemmt, spricht gerne davon, dass wir „ja wohl keine Umweltdiktatur wollen“. Ich fürchte, die Umweltdiktatur wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Aber nicht im Sinne der Kritiker als politisches Programm. Die Umwelt selbst wird uns diktieren, was sie von unserem jahrzehntelangen Handeln hält. Wir werden uns dem Diktat der Umwelt noch in dramatisch größerem Umfang stellen müssen als heute. Lokale Wetterkapriolen sind derzeit sehr begrenzt, aber was wäre, wenn es nicht Ahrweiler, sondern ganz Deutschland treffen würde? (Spoiler: Es betrifft die ganze Welt.)
Eine Million Jahre hat es nur geregnet, bis die Säure aus unserer Atmosphäre herausgewaschen war. Werden wir einfach weggewischt von der Geschichte? Heute Ahrweiler, morgen vielleicht Düsseldorf? Oder wenn die Sache mehr Fahrt aufnimmt, ganz NRW unbewohnbar, oder die Niederlande? Willkommen im Praxislabor des Klimawandels. Dass im übrigen der Untergang der meisten Zivilisationen nachweislich mit Klimakatastrophen einherging, lässt sich im Buch „Kollaps“ von Jared Diamond gut nachlesen.
In Ahrweiler, in Bad Münstereifel oder in Erftstadt hat uns die Ökodiktatur schon mal einen Vorboten geschickt. Es bleibt abzuwarten, ob wir die Botschaft verstehen und handeln. Bis dahin können wir ja lernen, auf versunkenen Klavieren zu spielen.
Der Autor Martin Görlitz setzt sich seit über 25 Jahren mit seiner Stiftung für Klimaschutz und Ressourcenschonung ein.