Was kann unmittelbar vor der US-Wahl noch gesagt werden, das noch nicht gesagt wurde?

Wovon es jedenfalls definitiv nicht mehr braucht: Skandalfetischismus, der in einer Hyperfokussierung auf den Präsidenten endet, und gewagte Prognosen, die schon wenig später überholt sein können. Tatsächlich bleibt dem Rest der Welt dieser Tage nur das Abwarten auf ein Ergebnis aus den Vereinigten Staaten, wann immer es kommen mag, wie immer es lauten mag.  Wir erleben also einen Moment von Machtlosigkeit. Bis dahin bleiben beide Kampagnen und ihre Unterstützenden ebenso wie die Medien im Dauerfeuermodus, dessen Logik sich auf den Nenner „LAUTER“ bringen lässt. Um diesem Lärm zu entkommen, kann es hilfreich sein, sich an zwei Dinge zu erinnern und einmal genauer hinzuhören: Einerseits, dass am 3. November neben der Präsidentschaftswahl eben auch Veränderungen im Kongress und regionalen Ämtern der 50 Staaten anstehen und andererseits, dass die Sachpolitik generell eine neue, über den Symbolwert hinausgehende, Ausrichtung erhalten könnte.

So dürfte es in vielen Fragen konkreter Politikgestaltung zentral auf die Zusammensetzung des Senats und des Repräsentantenhauses (auf Bundesebene ebenso wie in den einzelnen Staaten) ankommen. Wer hier Mehrheiten gewinnen oder vergrößern kann, besitzt in vielen Fällen die Macht, langfristigen Einfluss auf das gesellschaftliche Zusammenleben zu nehmen. Die mit der republikanischen Senatsmehrheit innerhalb kürzester Zeit gegen erhebliche Widerstände erzwungene Berufung Amy Coney Barrets an den Supreme Court zeigte dies zuletzt wieder deutlich. Aus ISSO-Perspektive ist es, wenn es um solche zukunftsweisenden Fragen geht, folgerichtig zu fragen, wie die Kandidaten und Parteien beziehungsweise politischen Lager mit dem Thema Nachhaltigkeit umgehen.

Zu fragen, ob denn nun Joe Biden oder Donald Trump die besseren Policies für den Schutz von Klima und Umwelt haben, wäre nichts anderes als ein schlechter Witz; ein Plan ist in diesem Fall tatsächlich erst einmal besser als kein Plan: Wer gewillt ist, zu versuchen, unser Haus zu löschen, der dürfte die Überlebenschancen nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Nachbarschaft erheblich steigern. Zumal die Positionen Trumps demgegenüber recht prägnant so zusammenfassen lassen, dass sie dem Gegenteil dessen entsprechen, das sein Herausforderer anstrebt. Also: Weniger Umweltschutz, mehr Deregulierung – weiter so wie bisher, am besten extremer. Ohnehin haben wir es bei den politischen Zielen Trumps nicht mit Positionen, sondern Partikularinteressen zu tun.

Dennoch lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen und zu fragen: Welchen Plan genau verfolgt Biden, was steckt hinter dem Versprechen, mehr als eine Billion US-Dollar in Umweltschutz und Klimaneutralität zu investieren? Die Ankündigung ist seine Antwort auf den Green New Deal, den der linke Parteiflügel fordert. Dabei geht es darum, durch die Stärkung grüner Wirtschaftszweige und der Abkehr von umweltschädlicher Technologie gleichzeitig neue Jobs zu schaffen. Ziel ist es also, die ökologische und die soziale Frage gemeinsam zu lösen. Andererseits gehört auch zu dieser Idee die Hoffnung auf ausreichend wirksame neue technologische Innovationen, die in der Lesart vieler einen Verzicht möglichst unnötig machen sollen – eine unter Expert*innen weltweit sehr kontrovers diskutierte Vorstellung. Die Forderungen von Joe Biden hingegen gestalten sich schon im Budget deutlich zurückhaltender. Der Plan seines ehemaligen Mitbewerbers Bernie Sanders zur Umsetzung des Green New Deal sah um ein Vielfaches höhere Ausgaben vor. Auch die Ziele zum Umweltschutz sind nicht unbedingt ambitioniert, wenngleich bedacht werden muss, in was für einer Ausnahmesituation sich das politische System derzeit befindet und dass angesichts dessen unter den Wähler*innen der Klimawandel lediglich Rang 11 der wichtigsten Themen belegt. Ein Beispiel für seine zurückhaltende Zielsetzungen ist Bidens Plan, das umstrittene Fracking nicht zu verbieten und stattdessen lediglich Offshore-Ölförderung und neue Förderstätten auf staatlichen Flächen zu untersagen. Allerdings spricht sich der Kandidat klar gegen die weitere Förderung fossiler Brennstoffe aus und akzeptiert keine Spenden von mehr als $200 aus diesem Industriezweig. Klare Stellung hat Biden zum Pariser Klimaabkommen bezogen: Er plant, diesem wieder beizutreten und einen internationalen Klimagipfel während seiner ersten 100 Tage im Amt abzuhalten. Zudem will er eine Kommission aus Wissenschaftler*innen bilden, die ihn zum Thema beraten soll und den Druck auf andere Staaten erhöhen, ihre Klimaziele nach oben zu schrauben. Auch in Bereichen wie sauberer Energieerzeugung, Plastikmüll und Naturschutz macht Bidens Programm Versprechungen, die (aus deutscher Perspektive) ein Mindestmaß an ökologischem Bewusstsein andeuten. Deren konkrete Belastbarkeit wird wohl allerdings erst sichtbar werden, falls er gewählt werden sollte, denn im Gegensatz zu anderen Präsidentschaftskandidat*innen hat Biden auf die Veröffentlichung detaillierter Pläne in vielen Fällen verzichtet.

Doch zur Nachhaltigkeit gehören bekanntermaßen auch wirtschaftliche und soziale Aspekte. Auch in diesen Belangen setzt sich ein Trend fort: Biden und die Demokraten streben mehr staatliche Gestaltungspolitik an. Dabei gilt es natürlich zu bedenken, dass deren Reichweite beschränkt ist im Land absoluter individueller Freiheit, in dem schnell als „Socialist“ gilt, wer einen Wohlfahrtsstaat nach westeuropäischem Vorbild fordert. Zudem gibt es nicht die Demokratische oder Republikanische Partei; beide sind tief gespalten in einzelne Lager, die auch in den Vorwahlkämpfen erkennbar wurden, wobei sich nach dem überraschen Sieg Trumps als Anti-Establishment-Kandidat 2016 mit Biden bei den Demokraten 2020 ein Mann aus der Parteimitte durchsetzen konnte. So sehen sich bei den Republikaner all die (oftmals wertkonservativen, traditionsorientierten) „Abweichler“ der unerbittlichen Mehrheit aus denjenigen, die Trump bedingungslos die Treue halten und jeglichen Widerspruch mit öffentlicher Verächtlichmachung sanktionieren, gegenüber. Die Demokraten wiederum zerstreiten sich, nicht selten zum eigenen taktischen Nachteil, in einer gewissen Regelmäßigkeit entlang der Konfliktlinie zwischen Progressives und Moderates (dem Partei-Establishment), wobei die zuerst genannte Gruppe der Parteilinken in den letzten Jahren ihren Einfluss vergrößern konnte. Somit ergibt sich für die Rolle, die Nachhaltigkeit innerhalb der unterschiedlichen politischen Lager einnimmt, eine weitere Komplexität, die dadurch verstärkt wird, dass die einzelnen Teilbestandteile zusammen gedacht werden müssen.

Wenn uns auch klar sein mag, wie wichtig und entscheidend die anstehenden Wahlen sind, bleibt uns doch – wie eingangs geschildert – nur die Publikumsrolle, in der wir zum Zuschauen und Kommentieren verdammt sind … oder? Vielleicht nicht ganz. Dass wir in einer globalisierten Welt leben, kann uns hier nämlich durchaus zum Vorteil gereichen, wenn wir es verstehen, nicht nur unsere Probleme global zu verbreiten, sondern auch deren Lösungen. Denn so ist nicht nur für uns von erheblicher Bedeutung, was Amerikanerinnen und Amerikaner in der Zeit bis zum 3. November tun oder nicht tun. Es wird für die USA schließlich auch eine Herausforderung sein, sich wieder in die Weltgesellschaft zu integrieren (oder aber weiterhin in Konflikt mit weiten Teilen von ihr zu agieren). Bedingt wird das auch dadurch, dass die Präsidentschaft Trumps Verschiebungen in der amerikanischen Außenpolitik beschleunigte und dazu den Weg zur Selbstisolation in einer herbei-imaginierten Opferrolle („America first“) einschlug. Dadurch entsteht nicht bloß das Machtvakuum, es öffnet sich auch ein weiteres Möglichkeitsfenster: Gewinnen die Demokraten um Joe Biden die Präsidentschaft und möglicherweise auch noch die Mehrheit im Senat, werden viele der außenpolitischen Beziehungen eine Revitalisierung erfahren. Das bedeutet freilich nicht, dass von einem auf den anderen Tag alles sein wird wie zuvor – im Gegenteil: die Außenpolitik der vergangenen vier Jahre hat das Ansehen der USA global ebenso beschädigt wie ihr Versagen in der Covid-19-Pandemie den Nimbus der Unbesiegbarkeit und unbegrenzten Leistungsfähigkeit weiter ankratzt. Insofern ist es denkbar, dass sich die Rolle der Vereinigten Staaten als globaler Hegemon verändern wird, nicht bloß weil diese ihr müde geworden und an sich selbst verzweifeln; denn die strukturellen Probleme des Landes sind überwältigend und überwiegen für den Moment wohl alle eigentlich so wichtigen Klimapläne, die hier diskutiert wurden.

Was bedeutet das für uns hier? Ganz deutlich parteiisch formuliert: Politik gegen Trump betreiben kann für uns als Einzelne heißen, weiter an der Welt trotz und nach ihm zu arbeiten. Das wird umso wichtiger, wenn er nicht mehr im Amt ist. Und sinnvoll ist es auch jetzt. So wie wir in der Lage sind, verantwortungsvoll kluge, wertbasierte Entscheidungen zu treffen, so können wir im Alltäglichen ebenso wie im besonderen unser Engagement für die große Transformation zur Nachhaltigkeit am Laufen halten und ihr neue Kraft geben – denn begonnen haben wir sie ja längst. Ausgangspunkt dafür kann in vielen Fällen explizit das Regionale oder das Lokale sein als einem Ort, an dem Innovationen entstehen, die dann in der vernetzten Welt geteilt werden und zu einem fairen Austausch miteinander führen.

Bleiben wir also deshalb auch den Menschen in den USA gegenüber offen und ebenso all denjenigen, die gegen ihren Willen zerstörerischen Regimen ausgesetzt sind, statt sie zur Karikatur zu machen. Ihre Probleme haben sie sich nicht alleine geschaffen, und gerade die progressiv denkenden, gestaltungswilligen Menschen, denen ebenso wie uns an einer lebenswerten Zukunft gelegen ist, brauchen in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung unsere Solidarität und nicht zuletzt auch Vorbilder und Partner. Das lokale und regionale Engagement wird also aufgeladen mit einer darüber hinaus reichenden Bedeutung: Handeln in einem globalen Verantwortungsrahmen verpflichtet, es befähigt aber gleichzeitig auch zur Einflussnahme und Gestaltung durch Leadership. Dazu braucht es überzeugende Ideen und Akteure, die mit gutem Beispiel vorangehen. Das sind Gedanken, die auch und vor allem dann gelten werden, wenn das Ergebnis nach dem 3. November so lauten sollte, wie es noch immer erschreckenderweise vorstellbar ist – dass der neue Präsident der alte wäre.

A house divided against itself cannot stand. I believe this government cannot endure, permanently half slave and half free. I do not expect the Union to be dissolved I do not expect the house to fall but I do expect it will cease to be divided. It will become all one thing or all the other.“ (Abraham Lincoln, 16. Juni 1858)

Bleiben wir also tätig und gerade jetzt regional aktiv, und arbeiten an unseren Teilen des „Hauses“, von dem Abraham Lincoln sprach und das längst die gesamte Weltgesellschaft meinen muss; auf dass wir viele andere finden mögen, an deren Arbeit wir anschließen können. Denn selbst wenn die Wahlen in den USA mehr als deutlich für diejenigen, die Nachhaltigkeit zumindest ein wenig mehr berücksichtigen wollen, ausgehen sollten, braucht es  – wie auch die jüngst vom Wuppertal Institut veröffentlichte Studie zum Thema zeigt – weiterhin ambitionierte Ideen und vor allem Taten zur Erreichung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele.

Drei Lesetipps, für alle, die mehr wissen wollen…

  • …über die politische Geschichte des ’American Experiment’: These Truths von Jill Lepore, einer fairen, zeitgenössischen Chronistin dieses Landes voller Widersprüche, in dem Enttäuschung und Hoffnung einander immer wieder abwechseln.

 

  • …über die Sicht eines scharfsinnigen Essayisten auf die Trump-Jahre: Eliot Weinbergers Neulich in Amerika, in dem Beobachtungen der USA am Abgrund gesammelt sind.

 

 

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