Alle Länder sind Entwicklungsländer

Eine Rezension zu Martha Nussbaums „Fähigkeiten schaffen“

Die Leitidee einer nachhaltigen Entwicklung ist längst nicht mehr auf die enge Verbindung von Ökonomie und Ökologie begrenzt. Entscheidend ist die Frage, wie eine gerechte Gesellschaft möglich werden kann. Im Hintergrund dieser Überlegungen steht vielfach der so genannte „Fähigkeitenansatz“. Entwickelt wurde dieser Ansatz, der die Lebensqualität von Menschen weltweit verbessern möchte, durch den indischen Philosophen Armatya Sen und die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum. Mit ihrem Buch „Fähigkeiten schaffen“ hat Nussbaum bereits 2011 eine englischsprachige Einführung vorgelegt. Mit der Übersetzung des Buches im Karl Alber-Verlag ist die Einführung nun auch für den deutschsprachigen Raum erschienen.

Im Fokus ihres Ansatzes stehen Fähigkeiten – jene Wahl- und Handlungsmöglichkeiten, über die eine Person in ihrer Lebenswelt verfügt. Gerechtigkeit meint folglich: Sind bestimmte Chancen und Wahlmöglichkeiten zwischen den Menschen gerecht verteilt? Entscheidend sind allerdings nicht nur real existierende Fähigkeiten, sondern auch, über welche Fähigkeiten eine Person verfügen sollte, um einen gutes Leben führen zu können. Nussbaum stellt zehn Fähigkeiten als zentral heraus: u.a. ein Menschenleben von normaler Dauer, gute Gesundheit, in der Lage zu sein, eigene Vorstellungen zu entwickeln, Bindungen einzugehen, Rücksicht auf Tiere und Natur zu nehmen oder sich effektiv in politische Entscheidungsprozesse einbringen zu können (vgl. Nussbaum 2015: 41f).

Viele dieser Fähigkeiten sind den Menschen in unterschiedlichen Weltregionen nicht selbstverständlich gegeben. Daher stelle sich die Frage: Was stimmt mit einer Gesellschaft nicht, die die Entwicklung von Fähigkeiten konterkariert? Die Achtung vor der menschlichen Würde verlange dem entgegen, so Nussbaum, die Bürger in allen zehn Bereichen über eine hinreichende Schwelle zu heben. Hier gilt, dass alle Länder Entwicklungsländer sind: „Ein jedes Land hat in vielfacher Hinsicht die Möglichkeit, die Bedingungen zu verbessern, unter denen eine angemessene Lebensqualität für alle seine Bewohner erbracht wird.“ (Nussbaum 2015: 7)

Mit ihrer Einführung bietet Martha Nussbaum einen guten Überblick hinsichtlich der zentralen Überlegungen des Fähigkeitenansatzes, ihren Hintergründen sowie zu künftigen Herausforderungen für eine Weiterentwicklung und für dessen Umsetzung. Der Ansatz eröffnet dabei eine wichtige Perspektive: Nachhaltige Entwicklung ist, so verstanden, am Menschen orientiert und zielt auf eine Entwicklung hin zu mehr Lebensqualität: „Wirtschaftswachstum, obwohl Teil einer klugen praktischen Politik, ist eben nur ein Teil, noch dazu eines von nur instrumenteller Bedeutung. Was letztlich zählt, sind die Menschen; Profite sind für die Leben der Menschen nur zweckdienliche Mittel.“ (Nussbaum 2015: 182).

Martha Nussbaum (2015): Fähigkeiten schaffen. Neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität. Freiburg/München: Karl Alber.

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