In einer Zeit, in der es üblich geworden ist, mehrmals in der Woche essen zu gehen, ob in der Kantine der Arbeitsstätte, in der Pizzeria um die Ecke, mit Freunden im Restaurant oder „To Go“ mittags am Food-Truck, trifft uns die Corona-Pandemie ins Mark unseres kulturellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses.

Ich erinnere mich auch an die Aussage einer Bewerberin vor einigen Jahren, die direkt im Bewerbungsgespräch sagte, dass sie für alle dienstlichen Aktivitäten einen ausreichenden Planungsvorlauf benötige, da sie über eine große Familie und einen noch größeren Freundeskreis verfüge und gerne die Wochenenden weit im Voraus verplane, um sich irgendwo in Deutschland oder der Welt für ein kulinarisches Miteinander mit ihnen zu treffen.

Unser Selbstverständnis zu reisen – wann und wohin auch immer – wird schon lange nicht mehr hinterfragt. Die Kosten für eine Flugreise waren bisher erschwinglich für die meisten Menschen in Deutschland oder im nördlichen Europa. Diese Situation könnte sich jetzt, bedingt durch die Corona-Pandemie, ändern. Wir lieben unsere Freiheit, überall hinreisen zu können und uns frei durch die Welt zu bewegen, ebenso wie uns jederzeit draußen mit anderen treffen zu können. In einer lauschigen Ecke oder im übervollen Biergarten, ganz so wie die Saison oder der Anlass es gerade hergeben.

Hat Schweden deswegen einen anderen Weg des Umgangs mit SARS-CoV-2 gewählt, weil es in ihrem Land üblicher ist, sich im eigenen Heim zu treffen, gerne auch nur zu einem Kaffee? Dazu wird Gebäck oder etwas Süßes gereicht, selbst nach dem Abendessen. Ausgehen und essen gehen ist hier nicht ganz so selbstverständlich und häufig wie in Deutschland oder südlicheren Kulturen. Jede Kultur hat ihre Eigenheiten. Die kleine Stadtwohnung vieler Franzosen ist auch ein Grund, sich lieber im Bistro des Quartiers zu treffen, bei einem Glas Wein oder einem Bier. Der Eingriff in unsere Gewohnheiten und Freiheiten durch SARS-CoV-2 ist drastisch, da lässt sich verstehen, dass Menschen dies als Freiheitsentzug verstehen und sich quälen, ihre Rechte aufzugeben. Wir sollten achtgeben, wenn unsere Freiheit gefährdet ist, immer neu und immer wieder. Leichtfertig darf dies niemals geschehen und es braucht ein Ringen um die Entscheidung, die einer Demokratie würdig ist.

Und natürlich stellen wir uns die Frage in ganz unterschiedlicher Hinsicht: Werden wir nach der Corona-Pandemie liebe Gewohnheiten und kulturelle Selbstverständlichkeiten aufgeben oder kehren wir einfach schnellstmöglich dahin zurück? Wie lange wird es dauern, bis sich aus dieser aktuellen Notsituation Anpassungen oder gar Veränderungen ergeben, die nachhaltig unsere Kultur verändern? Ist der bewährte und traditionelle deutsche Händedruck nun für immer verloren?

Neulich trat mir eine Frau forschen Schritts entgegen und instinktiv wich ich vor ihr zurück. Eine Verhaltensweise braucht ein gewisses Training und guten Willen, um sich dauerhaft und nachhaltig zu etablieren. Nun eröffnet der Augenkontakt ein Kennenlerngespräch zwischen Fremden und baut die Brücke zwischen Ängstlichkeit, Unsicherheit und Gesprächseinstieg. Die Armlänge aus Gründen der Etikette ist abgelöst vom Sicherheitsabstand, der 1,50 Meter oder besser noch 2 Meter benötigt, damit Aerosole nicht überspringen können. Wird sich das je wieder ändern?

Die französische Art des Embrassement

Haben Italiener und Franzosen deswegen so viel mehr Infektionen als wir in Deutschland zu verzeichnen, weil ihr kulturelles Begrüßungszeremoniell Küsse rechts, links, rechts oder umgekehrt weniger Abstand zulässt als ein Händeschütteln – und wenn dabei auch noch gesprochen wird, fliegen die Aerosole? Doch was ist mit den hohen Zahlen von Infektionen bei den Briten? Unsere nicht mehr europäischen Nachbarn vom „Small Island“ schütteln sich weder die Hände noch pflegen sie die französische Art des Embrassements zur Begrüßung, sie bleiben voreinander stehen mit Distanz und neigen, wenn überhaupt, leicht den Kopf oder heben die Hand zu einem freundlichen „Hello“. Vielleicht liegt es dort eher an der Kultur, regelmäßig in einen engen, stickigen und schlecht belüfteten Pub zu gehen. Die typische Art, eine Arbeitswoche im UK zu beenden, findet bei einem Pint oder einem Gin Tonic im Pub um die Ecke der Arbeitsstelle statt. Wer die typischen britischen Pubs kennt, weiß, dass ein Schutzabstand von 1,50 Metern hier nicht einzuhalten ist.

Die Tatsache, dass wir uns derzeit mit Vermutungen und vagen Erkenntnissen zufriedengeben müssen, ist nicht leicht auszuhalten. Ob sich Soziologen später einmal mit solchen Gesellschaftsstudien beschäftigen werden, wissen wir auch noch nicht. Spannend ist es auf alle Fälle, genauer zu beobachten, welche kulturellen Gewohnheiten und Verhaltensweisen nach der Corona-Pandemie bleiben und welche weichen werden. Werden wir je wieder dichtgedrängt bei einem Konzert, in der Skihütte, auf der „Wiesn“ oder im Karneval zusammenstehen, schunkeln oder feiern?

Eine Begrüßung mit Hand auf dem Herzen, digitale Weinproben, angedeutete Küsschen durch Eigenrotation rechts und links, Nicken des Kopfes, Garten- und Balkon-konzerte, Abklatschen mit Ellenbogen auf dem Fußballplatz, Picknick auf der Decke, Autokino, Vereinstreffen auf der grünen Wiese, Walk und Talk-Treffen und gehauchte Handküsse sind die neuen Gepflogenheiten und Rituale des Social Distancing. Werden wir uns daran gewöhnen? Und werden wir zukünftig entspannt mit viel Platz an einer langen Tafel draußen speisen, statt eng gedrängt in einem überfüllten Lokal, das ausgereizt ist bis auf den letzten Zentimeter Platz? Oder kochen wir wieder zuhause und nutzen unsere vollautomatisierten Einbau-Marken-Küchen, die viel Geld gekostet haben und viel zu wenig genutzt werden? Werden wir die freie Zeit aufgrund von weniger Veranstaltungen, Verabredungen und Reisen nutzen, um neue Rezepte auszuprobieren, den Dampfgarer einzusetzen und endlich einmal das nachzukochen, was uns unzählige Fernsehköche in unterschiedlichen Formaten über Jahrzehnte vorkochen? Eines ist sicher: solange die Sonne scheint und die Tage länger hell sind als bis 17 Uhr, kann das Lieblingskind aller deutschen Familien zum Einsatz kommen. Es wird gegrillt. Draußen an der frischen Luft und mit Mindestabstand von mindestens 1,50 Metern.

© ISSO 03.06.2020. Autorin: Beatrix Sieben, Illustration nach Martin Fengel. Dieser Beitrag darf unter Nennung von Quelle (ISSO), Autorin und Illustrator frei verwendet werden.

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