In diesen vom Coronavirus beherrschten Tagen fiel mir die alte Parabel von den Stachelschweinen im Winter wieder ein, geschrieben 1851 von Arthur Schopenhauer. Eine Gruppe Stachelschweine steht an einem kalten Wintertag zusammen, und auf einmal ist da dieses kollektive Gefühl, dass man sich gegenseitig wärmen könne, „um sich vor dem Erfrieren zu schützen“. Die Lage ist also durchaus ernst. Sobald die Stachelschweine aber in die Umsetzung gehen, wie man das heute nennen würde, stellt sich ihre grundlegende Eigenschaft des Stacheligen als Problem heraus. Es piekst. Die Stachelschweine rücken erschrocken wieder auseinander, was erneut zum Temperaturverlust führt. „So wurden sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.“

Schopenhauer wird Freude an seinem Bild gehabt haben, es ist so klar und einfach und dennoch tiefgründig. Der Ingenieur wird die Stachelschweinfrage als reines Optimierungsproblem verstehen, der Philosoph wird eine allgemeingültige Antwort für das Maß von Nähe und Distanz für unmöglich halten, denn „ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie (die Menschen) wieder voneinander ab“, so der Text. Die Suche nach einem richtigen Maß der Höflichkeit, dennoch nicht zu distanziert, bleibt dem Menschen dauerhaft erhalten. Menschliche Distanz nennen wir auch Kälte. Da ist es wieder.

In diesen vom Coronavirus beherrschten Tagen ist die Suche nach einer neuen Stachelschweindistanz allgegen­wärtig. Es scheint gar, als müsse die ganze Maßeinheit neu definiert werden. Wir begrüßen selbst enge Freunde nicht mehr mit einer Umarmung, spüren aber im selben Augenblick den Verlust. In der Öffentlichkeit, besonders beim Einkaufen, überall nur Suchende. Zwischen den Regalen merkt man es deutlich. Mal eben mit dem Einkaufswagen an einem anderen Kunden entlang­schrammen führt zu wütenden Ausbrüchen, was obendrein das Risiko einer Tröpfcheninfektion regelrecht explodieren lässt. Aber welche korrekte Distanz hält man ab jetzt zum Vordermann an der Kasse im Supermarkt ein? Werden die Trenn­schienen, die man vor und hinter die eigenen Einkäufe legt, bald 40×60 cm große Flächen sein wie ein Fußabtreter, antibakteriell und natürlich mit Werbung bedruckt? Der Mensch braucht Orientierung, da wäre dieser „Kunden­distanzhalter“ hilfreich. Dazu virologisch korrekt eingemessene 3D-Abstandswarner am Ein­kaufs­wagen plus ein paar grundlegende medizinische Tests eingebaut in dessen Handgriff. Müsste es aus China längst geben. Ein solches Produkt, exklusiv platziert an der Kasse bei nur einem Anbieter, verbunden mit der richtigen Kampagne, das würde die Leute zu Massen in diesen Markt treiben! Ach, das wollen wir ja derzeit nicht, außer bei Klopapier.

Übrigens: Warum kaufen alle Klopapier und Des­infektionsmittel? Die Antwort ist einfach und erschreckend. Es ist das Ergebnis der jahrzehntelangen Indoktrination, dass Kaufen alle Probleme löst. Die meisten von uns können deshalb fast nichts mehr außer kaufen. Kaufen ist die Antwort auf alles. Kaufen beruhigt. Sonst nichts. Dieses Bild offenbart aber sehr gut den erschreckenden Zustand unserer Gesellschaft. Niemand beginnt stattdessen eine Ausbildung als Hygienefachkraft für Haushalt und Nachbarschaft, was ja auch möglich wäre. Im Gegenteil, außer Kaufen wird alles abgesagt.

Wie tief dieser Virus in die Gesellschaft eingreift. Er scheint an vielen Stellen regelrecht wie ein Katalysator zu wirken, bringt vorhandene, aber verdeckte Dinge erst zutage, verstärkt Ängste, entfesselt Wut, zeigt möglicherweise wahre Gesichter hinter Fassaden.

Was können wir aus diesen Bildern an Positivem ziehen? Wie sieht das sprichwörtliche Apfelbäumchen aus, das wir jetzt pflanzen könnten, mitten hinein in die verunsicherten Stachelschweine? Etwas, das mehr ist als nur ein „hoffentlich wird es bis zum Sommer besser“? Wir könnten lernen, dass Weniger das neue Mehr ist und endlich die Lebensqualität des Weniger verstehen und verinnerlichen. Wir könnten wünschenswertes Wachstum endlich neu definieren, nämlich im Bereich Bildung statt im Konsum.

Und wir müssen unter uns ein neues Maß des Umgangs finden, mindestens für die Dauer der aktuellen Krise, wenn diese denn absehbar endlich ist. Wir haben das Bedürfnis, mit Freunden zusammen zu sein. Das Gefühl sozialer Nähe und Wärme wollen wir nicht ganz einstellen. Vielleicht gibt uns das die Gelegenheit, das oberflächliche „Küsschen hier, Küsschen da“ zu überwinden und wieder durch Sprache und Aufmerksamkeit zum Ausdruck zu bringen, was wir an unseren Freunden schätzen. Dann können wir die Einschränkung sozialer Kontakte und sogar eine vorüber­gehende Quarantäne und Isolation annehmen. Sie wird vermutlich endlich sein. Tief traurige Bilder tauchen auf von Menschen, die in Zeiten großer Unfreiheit ihren Freunden Briefe schrieben, die uns heute noch erschüttern.

Schopenhauer hat übrigens schon 1851 die Corona-Epidemie vollständig vorausgesehen und bei Fiebrigkeit die Quarantäne empfohlen. Der Schluss seiner Parabel lautet wörtlich: „Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.“ Welch ein Satz.

Den vollständigen Text zum Download im PDF-Format finden Sie hier. Weitere Kolumnen aus unserer ISSOlogie-Reihe gibt es hier.

© ISSO 15.03.2020. Autor: Martin Görlitz, Illustration: Tom Fiedler. Dieser Beitrag darf unter Nennung von Quelle (ISSO), Autor und Illustrator frei verwendet werden.
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