Klimawandel, Energiewende, Verkehrswende, … die Herausforderungen der Zukunft denken wir oft auf einer sehr abstrakten, globalen Ebene. Doch betroffen sind wir letztlich vor allem dort, wo wir leben – und das heißt für einen großen Teil der deutschen Bevölkerung: in der Stadt, konkret im eigenen Quartier. Denn dort liegt der Lebensmittelpunkt, hier findet das Alltagsleben statt. Und hier entstehen auch globale Probleme ebenso wie Lösungen. Grund genug, sich einmal genauer anzusehen, wie dort mit den drängenden Fragen unserer Zeit umgegangen wird und was wir daraus lernen können.

Das tut Davide Brocchi in seinem neuen Buch Große Transformation im Quartier. Dazu analysiert der Sozialwissenschaftler sechs verschiedene Initiativen aus Köln, Wuppertal und Bonn, die sich als Antwort auf mehr oder weniger ähnliche Herausforderungen formiert haben. Dabei wird deutlich, dass es Bürger*innen gelingen kann, das eigene Quartier auch gegen Widerstände zu gestalten und zu einer höheren Lebensqualität für alle beizutragen. Ausgangspunkt ist für den Autor hier der Begriff der „Großen Transformation“, den er aus dem aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs von Autoren wie Uwe Schneidewind und Harald Welzer adaptiert. Zentrales Anliegen des Buches ist, aufzuzeigen, wie im Lokalen Komplexität reduziert werden kann, sodass die großen Probleme auf einmal greifbar und Lösungen machbar werden. Illustrieren lässt sich das zum Beispiel am von Brocchi selbst in Köln initiierten Tag des guten Lebens: Ein Tag, an dem in teilnehmenden Quartieren die Straßen für Autos gesperrt und den Bürgern übergeben werden. Hier geht es allerdings weniger darum, ein kommerzielles Konsumfest zu veranstalten, als darum, den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Ziel der Idee ist es, die Menschen in Kontakt zu bringen und über den Tag hinaus reichende Netzwerke zu schaffen. Die Auseinandersetzung mit dieser und anderen Initiativen zeigt, dass Nachhaltigkeit mehrdimensional verstanden werden muss und dass Prozesse für den Wandel ebenso wichtig sind wie Ziele.

Brocchi fundiert seine Studie mit breit angelegten theoretischen Passagen, die vor allem Erkenntnisse der Soziologie und Politikwissenschaften einbringen. Das reicht stellenweise ein wenig über das für die Argumentation notwendige Maß hinaus ins Streitbare, zum Beispiel, wenn der Autor über die „Natur des Menschen“ philosophiert. Doch dem gegenüber stehen viele Vorschläge zum Handeln, die nicht nur aus dem Fazit hervorgehen, sondern sich schon während der Lektüre im Kopf des Lesers formen. Auch darüber hinaus versteht der Autor es, die individuellen Fälle mit größeren, strategischen Fragen wie beispielsweise der nach einer starken Demokratie zu verknüpfen. Empirisch setzt das Buch darauf, die Akteur*innen der behandelten Initiativen selbst ausführlich zu Wort kommen zu lassen und so eine Art Dialog zwischen Theorie und Praxis zu kreieren.

Insgesamt handelt es sich um ein gelungenes Buch, das den Leser motiviert, sich mit seiner direkten Umwelt auseinanderzusetzen und selbst aktiv zu werden. Denn besonders wie Davide Brocchi die Fallbeispiele nachzeichnet und wie nah an den Akteuren seine Schilderungen sind, lässt klar erkennen, dass er mit großer Leidenschaft hinter dem Thema steht.

Die zahlreichen Herausforderungen rund um eine nachhaltige, von den Bürger*innen lokal getragene Wende betreffen auch Koblenz. Ebenso können von hier auch neue Lösungen kommen: Mit dem Florinsmarkt und dem Dreikönigenhaus ist ISSO zum Beispiel Teil des Wandels in der Altstadt. Dazu findet sich der in der Studie betonte Fokus auf das Lokale auch im „Oikos“ von ISSO wieder, denn es geht beiden um ein gelungenes Leben und Wirtschaften in der unmittelbaren Gemeinschaft. Insofern können wir sicherlich das ein oder andere aus dem vorliegenden Buch für die eigene Arbeit mitnehmen. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja in Zukunft auch einen „Tag des guten Lebens“ in Koblenz.

Davide Brocchi ist Dipl.-Sozialwissenschaftler und Experte für sozial und kulturell nachhaltiges Zusammenleben sowie partizipative Transformationsprozesse im Lokalen. Er lebt in Köln und initiierte dort unter anderem den „Tag des guten Lebens“, der inzwischen bundesweit Nachahmer findet.

 Davide Brocchi (2019). Große Transformation im Quartier. Wie aus gelebter Demokratie Nachhaltigkeit wird. München: oekom. ISBN 978-3-96238-148-6.

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